Professor Dr. Martin Burgi, Ludwig-Maximilians-Universität München, nimmt erneut Stellung

Zweiter Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz enthält nur wenige Änderungen

- Am 11. Mai 2023 wurde ein zweiter Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz (KLWG) bekannt. Professor Dr. Martin Burgi, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat dies erneut kommentiert.
Professor Dr. Martin Burgi, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Professor Dr. Martin Burgi, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München

© Sandra Ritschel/Lebensmittelverband Deutschland
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Im Auftrag des Lebensmittelverbands Deutschland und des Zentralverbands der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW) hatte Professor Dr. Martin Burgi ein Gutachten zum Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz erstellt und am 26. April 2023 im Rahmen der Jahrestagung des Lebensmittelverbands vorgestellt. Die Rechtswissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel „Werbeverbote für Lebensmittel aufgrund ihres Zucker-, Fett- oder Salzgehalts als Eingriffe in die Kommunikations- und Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ hat der Jurist nach Bekanntwerden der zweiten Fassung des KLWG erweitert.

Der mit Bearbeitungsstand vom 11. Mai 2023 modifizierte Referentenentwurf enthält eine umfangreichere Begründung. Hinsichtlich der Vorschriften sind aber nur einige wenige, marginale Änderungen erfolgt:

  1. Die durch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) implementierte Verbotspolitik betreffend die Werbung für Lebensmittel (aufgrund ihres Zucker-, Fett- oder Salzgehalts) ist auch in der durch den Entwurf eines KLWG leicht modifizierten Fassung verfassungs- und europarechtswidrig. Unverändert sieht der Entwurf ein adressatenunabhängiges Teilwerbeverbot und ein Totalverbot bei Adressierung der Werbung an Kinder vor. Ferner erfasst er weiterhin annähernd 70 Prozent aller Lebensmittel. Die in der ausführlichen rechtswissenschaftlichen Untersuchung aus April 2023 beschriebenen Verstöße gegen die Kommunikationsgrundrechte nach Artikel 5 Absatz  1 Grundgesetz (GG), das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Artikel 12 Absatz 1 GG und die Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bestehen unverändert fort. Sämtliche in der damaligen Untersuchung enthaltenen Einschätzungen zu den Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit von Eingriffen in diese Rechtspositionen werden daher aufrechterhalten. Zur Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten des AEUV fehlt auch in der Begründung des nun vorgelegten Referentenentwurfs weiterhin eine Stellungnahme, obwohl sowohl der Lebensmittel- als auch der Kommunikationsmarkt in erheblichen Umfang eine grenzüberschreitende Dimension haben.
     
  2. Bemerkenswerterweise wird in dem Referentenentwurf eines KLWG vom 11. Mai 2023 ausdrücklich eingeräumt, dass mit den vorgesehenen Verboten „Eingriffe ... insbesondere in die Grundrechte der Meinungsäußerungsfreiheit und der Berufsausübungsfreiheit“ einhergehen würden (S. 10). In keiner Weise akzeptabel ist dann aber die wenige Sätze danach zu findende Formulierung, wonach „dem Gesetzgeber ... eine weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsfreiheit“ zustehe. Diese Einschätzung ist in der ausführlichen rechtswissenschaftlichen Untersuchung schon im Hinblick auf die Wirtschaftsgrundrechte zurückgewiesen worden (siehe dort S. 56 f., 61 ff., 71 ff., 80 ff.). Sie ist eindeutig unzutreffend im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte nach Artikel 5 Absatz 1 GG, von denen im vorliegenden Zusammenhang nicht „nur“ die Meinungsäußerungsfreiheit, sondern (und zwar in erheblichem Umfang) auch die Rundfunk- und Pressefreiheit sowie die Filmfreiheit betroffen sind. Geht man (zutreffenderweise!) von der Eröffnung des Schutzbereichs dieser Grundrechte aus, dann ist mit dem Bundesverfassungsgericht zu verlangen, dass die nachfolgende Abwägung „der herausragenden Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte Rechnung tragen“ muss (seit BVerfGE 7, 198 (208 f.); näher und mit weiteren Nachweisen siehe S. 59 f. der Untersuchung aus April 2023). Die Konsequenz dessen ist „ein besonders strenges Verhältnismäßigkeitserfordernis“. Diese Formulierung stammt aus der Kommentierung des bis vor Kurzem im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts wirkenden Andreas Paulus (in: Huber/Voßkuhle (Hg.), GG, 8. Auflage 2023 (erscheint im Juni 2023), Art. 5 Rn. 289). Dies bedeutet im Hinblick auf die hier in Frage stehenden Verbote, die nur präventiven Zwecken dienen, dass sie nicht lediglich „auf bloße Vermutungen hinsichtlich der Gefahrenprognose“ gestützt werden dürfen (a.a.O., Rn. 292). Das in einem Gesetzentwurf gleichzeitig vom Vorliegen eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit ausgegangen und eine weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsfreiheit des Staates reklamiert wird, dürfte in der Geschichte der verfassungsrechtlichen Beschäftigung mit dem Grundrecht des Artikel 5 Absatz 1 GG ohne Beispiel sein, zumal sich die in Frage stehenden Meinungen auf Lebensmittel beziehen, die nicht schon für sich gefährlich oder gar verboten sind.