Position/Stellungnahme

Position zum Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung“ des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE)

- Am 21. August 2020 hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) sein Gutachten mit dem Titel „Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten“ vorgelegt. In seinem Gutachten kommt der WBAE zu dem Ergebnis, dass eine Notwendigkeit für eine große Transformation bestehe, die Lebensstile und eine Änderung der Konsummuster umfassen müsse. Hierzu bedürfe es u. a. einer stärker nachfrageseitig ansetzenden Politik, die Verbraucherinnen und Verbraucher durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen deutlich stärker als bisher unterstützt. Die Politikempfehlungen des Gutachtens basieren auf einem an den Grundbedürfnissen orientierten Nachhaltigkeitsverständnis im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in den vier Dimensionen Gesundheit, Umwelt, Soziales und Tierwohl (sog. „Big Four“).

In seiner zentralen Empfehlung für eine integrierte Ernährungspolitik spricht sich der WBAE für eine umfassende konzeptionelle und institutionelle Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung aus, das die vier Dimensionen Gesundheit, Umwelt, Soziales und Tierwohl gemeinsam in den Blick nimmt. Hierzu bedürfe es eines lernenden Politikansatzes mit einer übergreifenden Strategie, basierend auf langfristigen, überprüfbaren Zielen, sowie eines Instrumentenmix, der zielgerichtet erprobt, konsequent evaluiert und evidenzbasiert angepasst werden sollte. Dies erfordere ein transparentes Monitoring und eine stärkere Vernetzung zwischen den Ressorts (insbesondere Ernährung und Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt) auf den verschiedenen Politikebenen, von der Kommune bis zur EU, sowie den Ausbau personeller Kapazitäten mit deutlichen Budgeterhöhungen für die Ernährungspolitik.

Aus Sicht des Lebensmittelverbands betrachtet das Gutachten des WBAE viele zentrale gesundheits-, umwelt- und sozialpolitische Herausforderungen, an deren Lösung die Lebensmittelwirtschaft schon heute aktiv mitwirkt. Die im Rahmen des Gutachtens ausgesprochenen Politikempfehlungen sind z. T. sehr weitreichend und gehen im Hinblick auf die Dimension Gesundheit deutlich über den von der Bundesregierung verfolgten ganzheitlichen Ansatz hinaus. Die Legitimation der vorgeschlagenen staatlichen Eingriffe mit dem Ziel der konsumseitigen Steuerung sowie das diesen Empfehlungen zugrundeliegende Verbraucherleitbild bedarf aus Sicht des Lebensmittelverbands einer kritischen Prüfung. Nach Auffassung des Lebensmittelverbands müssen die im Rahmen des Gutachtens ausgesprochenen Empfehlungen gesamtgesellschaftlich diskutiert und bewertet werden. Die Lebensmittelwirtschaft ist bereit, sich an dem hierfür notwendigen Prozess zu beteiligen, und betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Notwendigkeit für ein gemeinsames Verständnis über ein Verbraucherleitbild, das sich am Leitbild des mündigen Verbrauchers orientiert. Ebenso sollte ein gemeinsames Verständnis darüber bestehen, dass die Ökonomie – neben den sog. „Big Four“ – als gleichwertige Dimension in einer gemeinsamen Definition einer nachhaltigeren Ernährung zu berücksichtigen ist. Oberste Prämisse sollte dabei sein, dass die Gestaltung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar, kohärent und an den Zielen der Agenda 2030 orientiert ist.

In den nachfolgend aufgeführten zehn Punkten sind die Kernbotschaften der Position des Lebensmittelverbands zu dem Gutachten des WBAE niedergelegt. Diese konzentrieren sich auf übergeordnete Aspekte und stellen keine detaillierte Bewertung aller in dem Gutachten herausgestellten Herausforderungen und Politikempfehlungen dar. Die fachliche Detailkommentierung für einzelne Themen obliegt den zuständigen (Branchen-) Verbänden. Auch der Lebensmittelverband behält sich vor, zu weiteren Teilaspekten des Gutachtens nach interner Diskussion und Bewertung ergänzend Stellung zu nehmen.

1. Eine „nachhaltigere Ernährung“ ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung - die deutsche Lebensmittelwirtschaft steht zu ihrem Teil der Verantwortung

Mit der Verabschiedung der Grundsatzposition zu nachhaltigeren Lebensmittelsystemen im Frühjahr 2020 hat die deutsche Lebensmittelwirtschaft ihre Kernbotschaften zu „nachhaltigeren Lebensmittelsystemen“ niedergelegt, die über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg unterstützt werden. Hierin erkennt die Lebensmittelwirtschaft die in den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) adressierten Fragestellungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Ihren aktiven Beitrag zu den SDGs leistet die Lebensmittelwirtschaft schon heute, denn nachhaltiges Wirtschaften liegt von jeher im ureigenen Interesse einer verantwortungsvollen Unternehmensführung. Auch zukünftig wird die Lebensmittelwirtschaft zu einer noch nachhaltigeren Erzeugung, Veredelung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln beitragen. Zu diesem Zweck engagiert sich die Lebensmittelwirtschaft in Form zahlreicher Maßnahmen und Initiativen zum nachhaltigen Wirtschaften. Nachhaltiges Wirtschaften ist damit fester Bestandteil der Unternehmensstrategie vieler Unternehmen der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Lösungsansätze reichen vom Lieferketten- und Rohstoffmanagement über Energieeffizienz und Abfallvermeidung in der Produktion und einer an den sich wandelnden Präferenzen der Verbraucher orientierten Produktentwicklung bis hin zu einem gemeinsamen sozialen Engagement mit dem Kunden und schließen damit zentrale Aspekte einer nachhaltigeren Ernährung ein. Ihr Engagement wird die Lebensmittelwirtschaft auch zukünftig fortführen und verstärken.

2. Die globalen Ziele für Nachhaltige Entwicklung sollten die Basis für ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis sein

Als allgemein anerkanntes und von der deutschen Lebensmittelwirtschaft unterstütztes Rahmenwerk stellen die Globalen Ziele für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) eine geeignete Grundlage für ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis dar. Wichtige Aussage der SDGs ist, dass die Ziele und Handlungsfelder der verschiedenen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung gemeinsam in den Blick genommen werden müssen. Angesichts einer stetig wachsenden Weltbevölkerung und der zunehmenden Sichtbarkeit der bestehenden planetaren Grenzen stellt die verlässliche Versorgung der Menschen mit sicheren, hochwertigen Nahrungsmitteln unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte eine der größten Herausforderungen unserer Zeit dar. Die Lösung dieser Herausforderungen kann nur über ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis unter Berücksichtigung aller relevanten Dimensionen und ein gemeinsames Verständnis zum Umgang mit Zielkonflikten gelingen.

3. Die Ökonomie muss als gleichwertige Dimension in einem gemeinsamen Verständnis über eine nachhaltigere Ernährung berücksichtigt werden

Die Orientierung an den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) für ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis bedeutet aus Sicht des Lebensmittelverbands auch, dass die Belange der wirtschaftlichen Entwicklung bei der Gestaltung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme und einer nachhaltigeren Ernährung ebenso berücksichtigt werden müssen wie die Belange in den Dimensionen Gesundheit, Umwelt Soziales und Tierwohl. Eine Fokussierung auf lediglich vier Dimensionen für ein gemeinsames Verständnis einer nachhaltigeren Ernährung – wie in dem WBAE-Gutachten mit den sog. „Big Four“ vorgenommen – ist aus Sicht des Lebensmittelverbands nicht ausreichend; es fehlt eine angemessene Berücksichtigung der ökonomischen Dimension. Politikempfehlungen für eine nachhaltigere Ernährung müssen wirtschaftliche Auswirkungen im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Lebensmittelwirtschaft im globalen Kontext, aber auch steigende Preise für die Verbraucher als potentielle Folge einer Umstellung auf nachhaltigere Ernährungssysteme differenziert berücksichtigen. Der Preis zählt noch immer zu den wichtigsten Einflussfaktoren auf die Kaufentscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucher, wobei die Zahlungsbereitschaft nicht zuletzt von dem verfügbaren Haushaltseinkommen abhängig ist. Die im Rahmen eines gemeinsamen Nachhaltigkeitsverständnisses zweifelsohne notwendigen Entscheidungen über die zentralen Dimensionen einer nachhaltigeren Ernährung und ihrer Gewichtung müssen die ökonomische Perspektive umfassend berücksichtigen und bedürfen eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses.

4. Ein gemeinsames Verbraucherleitbild muss dem im Verbraucherschutz und Wettbewerbsrecht gültigen Leitbild des mündigen Verbrauchers entsprechen

Um den Konsum und die Nachfrage auf allen Stufen der Wertschöpfungskette in Zukunft noch nachhaltiger zu gestalten, sind die Verbraucherinnen und Verbraucher unverzichtbare Akteure auf dem gemeinsamen Weg zur Gestaltung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme. Dem Verbraucherleitbild, das den politischen Entscheidungen zur Auswahl geeigneter Maßnahmen für eine nachhaltigere Ernährung zugrunde liegt, kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Wie Prof. Dr. Udo Di Fabio in seinem Gutachten „Staatliche Ernährungspolitik und Verfassung“ (1) ausführt, entspricht das im Verbraucherschutz und im Wettbewerbsrecht gültige Leitbild des mündigen Verbrauchers dem verfassungsrechtlichen Menschenbild. Die rechtsstaatliche Demokratie des Grundgesetzes verfüge dabei nicht über das Mandat, den Lebenswandel der Bürger durch moralische Erziehung oder verdeckte Verhaltenslenkung zu „bessern“. Der Gesetzgeber dürfe unter Achtung der Grundrechte kollektive Ziele formulieren und verbindlich machen, aber dabei nicht den Menschen die Freiräume für Selbstentfaltung und eigenes Entscheiden substantiell entziehen. Die Art und Weise der Ernährung gehöre zur persönlichen Lebensgestaltung. Die Gestaltungsfreiheit auch im Gesundheitsschutz oder im Verbraucherschutz ende dort, wo ein Verbraucherleitbild, ein typisiertes Bild menschlichen Verhaltens nicht mehr dem verfassungsrechtlichen Menschenbild entspricht. Wirtschaftliche Lenkungsmaßnahmen müssten zudem verhältnismäßig sein, um legitime Lenkungsziele zu erreichen und sie dürfen einkommensschwächere Bevölkerungsschichten mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip nicht übermäßig belasten. Verfassungsrechtlich problematisch seien aber auch Verhaltenslenkungen, die gleichsam „hinter dem Rücken“ der Konsumenten erfolgen, die nicht die Autonomie der Verbraucher stärken, sondern sie unmerklich beeinflussen und lenken sollen. Dies gelte insbesondere dann, wenn dazu die Berufsfreiheit von Produzenten und Handel mit regulativen Vorgaben eingeschränkt werde. Schließlich kenne die Verfassungsordnung keine Erziehung von Erwachsenen. Zwischen Gesellschaft und Staat bestehe eine klare Trennlinie. Der Rechtsstaat dürfe nicht den Bürger manipulieren, er sei in gegenläufiger Richtung zur Erhaltung der Privatautonomie ermächtigt oder in bestimmten Konstellationen sogar verpflichtet.
Staatliche Eingriffe in den Markt und in die Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher sind daher immer auch auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen, wobei das im Verbraucherschutz und Wettbewerbsrecht gültige Leitbild des mündigen Verbrauchers zugrunde gelegt werden muss.

5. Vor der Einführung politischer Maßnahmen sind bestehende Datenlücken zu schließen

Der WBAE selbst weist an verschiedenen Stellen seines Gutachtens darauf hin, dass für wichtige Fragen, die im Zusammenhang mit Empfehlungen des Gutachtens stehen, teils erhebliche Lücken in der Datenverfügbarkeit und methodische Herausforderungen bestehen. Dies betreffe insbesondere die Dimensionen Gesundheit und Soziales. So sieht der Beirat die oft unzureichende Aktualität der Daten, die fragmentierte Berichterstattung zur Ernährungssituation und die sehr eingeschränkte Erfassung der Versorgung spezifischer Bevölkerungsgruppen als ein besonderes Problem an. Das Gutachten führt zudem aus, dass auch in Bezug auf die Grundlagen für die Berechnung der volkswirtschaftlichen Kosten infolge von Übergewicht und Adipositas – die im Rahmen des Gutachtens zur Legitimation eingriffstiefer Instrumente herangezogen werden – weiterhin methodische Herausforderungen bestehen, die in der multikausalen Entstehung von Übergewicht, Adipositas und nichtübertragbaren Krankheiten bergründet sind. Eine Verbesserung der Datengrundlage und Harmonisierung der verwendeten Methodik scheint somit auch in diesem Zusammenhang angezeigt. Ebenso ist zu hinterfragen, inwieweit die an vielen Stellen des Gutachtens zitierte internationale Literatur auf den deutschen Kontext übertragbar ist. Durch den Staat eingeführte ernährungspolitische Maßnahmen müssen aus Sicht des Lebensmittelverbands auf einer validen Datengrundlage beruhen und bedürfen vor ihrer Einführung einer umfassenden Folgenaschätzung im Hinblick auf die potenziellen wirtschaftlichen Folgen auf allen Stufen der Wertschöpfungskette. Ein lernender Politikansatz, der eine Kombination verschiedener Instrumente erprobt, um diese dann evidenzbasiert anzupassen, ist aufgrund der potenziell weitreichenden ökonomischen Auswirkungen einiger der durch den WBAE vorgeschlagenen Politikinstrumente aus Sicht des Lebensmittelverbands nicht akzeptabel.

6. Eine nachhaltigere Ernährung bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes mit einem Fokus auf der Stärkung der Eigenverantwortung des Individuums und der Innovationskraft der Unternehmen

Eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung bedarf aus Sicht des Lebensmittelverbands eines ganzheitlichen Ansatzes, der Maßnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung des Individuums und die Innovationskraft der Unternehmen in den Mittelpunkt stellt.
Für die Konzeption erfolgreicher Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Übergewicht, Adipositas und nichtübertragbaren Krankheiten – dem zentralen Ziel in der Dimension Gesundheit – ist es unabdingbar, dem komplexen Geschehen bei der Entstehung dieser Krankheiten Rechnung zu tragen. Hierzu gilt es zunächst das Verständnis für das mehrdimensionale Zusammenspiel unterschiedlichster Einflussfaktoren zu erhöhen. Die Entstehung von Übergewicht, Adipositas und nichtübertragbaren Krankheiten ist vielschichtig und wird nicht allein durch verhaltensbezogene Faktoren (Ernährung und Bewegung), sondern durch eine Vielzahl genetischer, physiologischer, psychologischer, sozialer und kultureller Faktoren beeinflusst. Zu Recht gewinnt daher die Forschung zu personalisierten Ernährungsweisen an Bedeutung. Weder einzelne Nährstoffe, noch einzelne Lebensmittel können per se für die Entstehung von Übergewicht, Adipositas und/oder nichtübertragbaren Krankheiten verantwortlich gemacht werden. In einer ausgewogenen Ernährung finden alle Lebensmittel ihren Platz. Dabei leisten sowohl pflanzliche als auch tierische Lebensmittel einen wichtigen Beitrag zu einer bedarfsgerechten Energie- und Nährstoffversorgung, die nur durch eine geeignete Kombination unterschiedlicher Lebensmittel entsprechend den individuellen Bedürfnissen gelingen kann.

Auch die Problemanalyse des WBAE-Gutachtens zeigt auf, dass die verschiedenen Empfehlungen zum Konsum „gesundheitsförderlicher Produkte“ für sich jeweils nur begrenzte Beiträge leisten können. Die Empfehlungen des WBAE zur Einführung von Lenkungssteuern und Werbebeschränkungen für einzelne Lebensmittelgruppen sind daher aus Sicht des Lebensmittelverbands zur Prävention von Übergewicht, Adipositas und nichtübertragbaren Krankheiten nicht zielführend, zumal Langzeiteffekte dieser Maßnahmen nach Auffassung des Lebensmittelverbands bisher nicht überzeugend belegt sind. Gegen regulatorische Maßnahmen sprechen u. a. die wenig verstandenen Substitutionsbeziehungen, d. h. die wenigen Erkenntnisse darüber wie die von einer Regulierung – wie etwa einer Lenkungssteuer– betroffenen Produkte im Falle einer Lenkungswirkung von den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Art und Menge ersetzt werden, als auch die grundsätzliche Gefahr von Rebound-Effekten. Regulatorische Maßnahmen begünstigen zudem ein Umfeld, das für Innovationen nicht förderlich ist. Maßnahmen zur Erreichung gesundheits-, umwelt- und sozialpolitischer Ziele müssen von den Beteiligten frei wählbar sein, um Innovationspotenziale voll auszuschöpfen. Anstelle von regulatorischen Maßnahmen ist die Stärkung der Eigenverantwortung des Individuums, unter Berücksichtigung des Leitbilds des mündigen Verbrauchers, in den Mittelpunkt der Maßnahmen für eine nachhaltigere Ernährung zu stellen. Grundvoraussetzung für die Messung des Erfolgs der gewählten Maßnahmen ist dabei ein Konsens über geeignete, valide Indikatoren unter Berücksichtigung aller relevanten Dimensionen einer nachhaltigen Ernährung.

7. Bisher erreichte Erfolge nationaler Initiativen und freiwilliger Selbstverpflichtungen sind anzuerkennen und die ergriffenen Maßnahmen zu verstetigen

Die repräsentativen Daten des nationalen Gesundheits- und Ernährungsmonitorings zeigen gerade in den letzten Jahren in vielen Bereichen eine positive Entwicklung auf, die es anzuerkennen und zu verstetigen gilt. So belegen die aktuellen Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS, Welle 2) eine Stagnation der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas. Im Vergleich zur KiGGS-Basiserhebung (2003 – 2006) ist insgesamt und in allen Altersgruppen kein weiterer Anstieg der Übergewichts- und Adipositasprävalenzen zu beobachten (2). Im Bereich des Ernährungsverhaltens zeigt sich, dass der Anteil der Heranwachsenden, die täglich zuckerhaltige Erfrischungsgetränke trinken, sich gegenüber der KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) verringert hat (3). Die Ergebnissen der DONALD-Studie weisen zudem auf eine Tendenz für eine sinkende Zuckeraufnahme hin (4). Besorgniserregend ist dagegen die Entwicklung bei der körperlichen Aktivität, die in den letzten Jahren rückläufig zu sein scheint und auf hohes Potenzial für die Bewegungsförderung hindeutet (5).
Die aktuellen Entwicklungen im Bereich des Gesundheits- und Ernährungsverhaltens sind auch vor dem Hintergrund der bisher ergriffenen ernährungspolitischen Maßnahmen, die auf einem ganzheitlichen Ansatz fußen und freiwillige Beiträge der Lebensmittelwirtschaft einschließen, zu sehen. Mit der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten (NRI) sowie der freiwilligen Initiative zur Minimierung von trans-Fettsäuren ist die Lebensmittelwirtschaft in vielen Bereichen freiwillige Selbstverpflichtungen eingegangen, positive Entwicklungen wurden mehrfach bestätigt (6–8). Dieses freiwillige Engagement der Wirtschaft ist anzuerkennen. Dabei müssen die besonderen Herausforderungen für kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) stets anerkannt und berücksichtigt werden. Wichtigste Voraussetzung für den Erfolg aller politischen Maßnahmen bleibt die Akzeptanz und langfristige Kaufbereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Wahrung von Sicherheit, Qualität und Wirtschaftlichkeit auf allen Stufen der Wertschöpfungskette.

8. Maßnahmen für mehr Tierwohl bedürfen einer gesamtgesellschaftlichen Konsens

Die Notwendigkeit zum Umbau der landwirtschaftlichen Tierhaltung hin zu mehr Tierwohl als gesellschaftliches Ziel erkennt die Lebensmittelwirtschaft an. Dieses Ziel verfolgt die Lebensmittelwirtschaft beispielsweise mit der breiten Beteiligung an der „Initiative Tierwohl“ (ITW), von der inzwischen über 500 Mio. Tiere jährlich profitieren. Das zentrale Element des erforderlichen Umbaus stellt aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft ein tragfähiges Machbarkeits- und Finanzierungsmodell dar, mit dem sichergestellt wird, dass Ressourcen, die für Stallumbauten oder Umstellung von Systemen benötigt werden, passgenau und unbürokratisch abrufbar sind sowie mittel- und langfristig Planungssicherheit für die Betroffenen geschaffen wird. Hierfür sollten bereits gelebte Beispiele wie die ITW als Vorlage bzw. Orientierung dienen. Die genaue Ausgestaltung eines tragfähigen Finanzierungs- und Fördermodells bedarf der weiteren Diskussion und am Ende eines gesellschaftlichen Konsenses. Darüber hinaus bedarf es weiterer Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz über Tierwohlstandards (z. B. Kennzeichnung) und zur entsprechenden Information der Verbraucher, damit Verbraucher auch bereit sind, mehr für Produkte, die einen hohen Tierwohlstandard genügen, zu zahlen. Der Diskurs um die Erhöhung von Standards für mehr Tierwohl und zum Labeling sollte kein nationales Thema sein. Er ist weiterhin auf internationaler und europäischer Ebene voranzutreiben. Nationale Alleingänge bergen das Risiko der Wettbewerbsverzerrung und zwingen deutsche Tierhalter unter Umständen zur Betriebsaufgabe, weil sie im europäischen Wettbewerb nicht bestehen können. Die Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln würde dann – unabhängig von den dortigen Tierwohlstandards – von Produzenten aus europäischen sowie außereuropäischen Nachbarländern gedeckt. Insofern ist es unabdingbar für eine nachhaltige Verbesserung des Tierwohls, diese auf zumindest europäischer Ebene zu adressieren und umzusetzen.

9. Einflussfaktoren für die Kaufentscheidung bedürfen einer realistischen Bewertung

Untersuchungen zeigen, dass sich die im Rahmen von Befragungen erhobene Zahlungsbereitschaft von Verbraucherinnen und Verbrauchern, u. a. aufgrund von sozial-erwünschtem Antwortverhalten, häufig nicht im Verhalten widerspiegelt (sog. „Attitude-Behaviour Gap“). Dies wird am Beispiel des Wunschs nach höheren Tierwohlstandards besonders deutlich und veranschaulicht ein grundlegendes Problem. Tierische Produkte mit zum Teil sehr hohen Tierwohlstandards sind bereits heute unter verschiedenen Labeln im Markt verfügbar. Dies ist im Diskurs um die Zahlungsbereitschaft von Verbraucher zu berücksichtigen. Die Grundannahme, Verbraucher seien bereit, einen deutlich höheren Preis für tierische Produkte mit höheren Tierwohlstandards zu zahlen, spiegelt sich im realen Einkaufsverhalten bislang nicht wider. Umfragen, die als Beleg für die Annahme der deutlich höheren Zahlungsbereitschaft herangezogen werden, basieren nicht auf Analysen des realen Kaufverhaltens, sondern auf Absichtserklärungen der Teilnehmer. Untersuchungen hingegen, die das tatsächliche Kaufverhalten und die Absichtserklärung gegenüberstellen, finden nur unzureichende Beachtung, was zu fehlerhaften Grundannahmen und falschen Gewichtungen in der Diskussion führt. Dies verzerrt die korrekte Definition der Ausgangssituation für den Umbau der Tierhaltung.

10. Instrumente zur Reduktion von Lebensmittelverlusten sollen im Rahmen der Umsetzung der Nationalen Strategie gemeinsam erarbeitet werden

Die Lebensmittelwirtschaft und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) arbeiten gemeinsam daran, vermeidbare Lebensmittelabfälle entlang der gesamten Wertschöpfungskette und bei den Verbrauchern in den kommenden Jahren wirksam zu reduzieren, um den mit der Produktion, der Vermarktung und dem Konsum von Lebensmitteln in Deutschland verbundenen Ressourceneinsatz noch effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Dazu haben Wirtschaft und Ministerium im März 2020 eine Grundsatzvereinbarung zur Reduzierung von vermeidbaren Lebensmittelabfällen unterzeichnet (9), die die Grundlage für die Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung bildet. Darin verständigten sie sich u. a. auf die international vereinbarten Ziele zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle und -verluste. In einem zweiten Schritt sollen in verschiedenen sektorspezifischen Dialogforen Vereinbarungen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle mit konkreten Maßnahmen diskutiert und erarbeitet werden. In diesen Diskussionen können auch die Empfehlungen des WBAE berücksichtigt werden. Da über 50 Prozent der Lebensmittelabfälle auf der Ebene der privaten Haushalte anfallen, bedarf es aber in jedem Falle auch und gerade in diesem Bereich weiterer (gemeinsamer) Maßnahmen zur Sensibilisierung der Verbraucherinnen und Verbraucher.

Abschließende Bemerkungen
Das Gutachten des WBAE betrachtet viele zentrale gesundheits-, umwelt- und sozialpolitische Herausforderungen, an deren Lösung die Lebensmittelwirtschaft schon heute aktiv mitwirkt. Die im Rahmen des Gutachtens ausgesprochenen Politikempfehlungen sind z. T. sehr weitreichend und gehen im Hinblick auf die Dimension Gesundheit deutlich über den von der Bundesregierung verfolgten ganzheitlichen Ansatz hinaus.

Die Legitimation der vorgeschlagenen staatlichen Eingriffe mit dem Ziel der konsumseitigen Steuerung sowie das diesen Empfehlungen zugrundeliegende Verbraucherleitbild bedürfen einer kritischen Prüfung. Die Gestaltungsfreiheit auch im Gesundheitsschutz oder im Verbraucherschutz endet dort, wo ein Verbraucherleitbild, ein typisiertes Bild menschlichen Verhaltens nicht mehr dem verfassungsrechtlichen Menschenbild entspricht. Verfassungsrechtlich problematisch sind diejenigen Verhaltenslenkungen, die gleichsam „hinter dem Rücken“ der Konsumenten erfolgen, zumal wenn dazu die Berufsfreiheit von Produzenten und Handel mit regulativen Vorgaben eingeschränkt werden, die nicht die Autonomie der Verbraucher stärken, sondern sie unmerklich beeinflussen und lenken sollen.

Nach Auffassung des Lebensmittelverbands müssen die im Rahmen des Gutachtens ausgesprochenen Empfehlungen gesamtgesellschaftlich diskutiert und bewertet werden. Die Lebensmittelwirtschaft ist bereit, sich an dem hierfür notwendigen Prozess zu beteiligen, und betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Notwendigkeit für ein gemeinsames Verbraucherleitbild, das sich am Leitbild des mündigen Verbrauchers orientiert. Ebenso sollte ein gemeinsames Verständnis darüber bestehen, dass die Ökonomie – neben den sog. „Big Four“ – als gleichwertige Dimension in einer gemeinsamen, sich an den globalen Zielen einer Nachhaltigen Entwicklung orientierenden Definition einer nachhaltigeren Ernährung zu berücksichtigen ist. Oberste Prämisse sollte dabei sein, dass die Gestaltung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar, kohärent und an den Zielen der Agenda 2030 orientiert ist.

Literatur

(1) DI FABIO, U. Staatliche Ernährungspolitik und Verfassung. Stellungnahme zum WBAE-Gutachten. ZLR, 2021, 202(2), 169-195.
(2) SCHIENKIEWITZ, A., A.-K. BRETTSCHNEIDER, S. DAMEROW und A. SCHAFFRATH ROSARIO. Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends [online]. Journal of Health Monitoring, 2018, 3(1), 16-23. Verfügbar unter: doi:10.17886/RKI-GBE-2018-005.2
(3) MENSINK, G.B.M., A. SCHIENKIEWITZ, M. RABENSBERG, A. BORRMANN, A. RICHTER und M. HAFTENBERGER. Konsum zuckerhaltiger Erfrischungsgetränke bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends [online]. Journal of Health Monitoring, 2018, 3(1), 32-39. Verfügbar unter: doi:10.17886/RKI-GBE-2018-007
(4) PERRAR, I., S. SCHMITTING, K.W. DELLA CORTE, A.E. BUYKEN und U. ALEXY. Age and time trends in sugar intake among children and adolescents: results from the DONALD study [online]. European journal of nutrition, 2020, 59(3), 1043-1054. Verfügbar unter: doi:10.1007/s00394-019-01965-y
(5) FINGER, J.D., G. VARNACCIA, A. BORRMANN, C. LANGE und G.B.M. MENSINK. Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends [online]. Journal of Health Monitoring, 2018, 3(1), 24-31. Verfügbar unter: doi:10.17886/RKI-GBE-2018-006.2
(6) DEMUTH, I., L. BUSL, M. EHNLE-LOSSOS, A. ELFLEIN, N. FARK, E. GOOS, C. TURBAN, L. WERNER, R. WERNER, S. STORCKSDIECK GENANNT BONSMANN, S.A. ROSER und I. HOFFMANN. Produktmonitoring 2020: Ergebnisbericht April 2021 [online], 2021 [Zugriff am: 8. Juni 2021]. Verfügbar unter: https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Institute/EV/MRI-Produktmonitoring-2020_Ergebnisbericht-final.pdf
(7) DEMUTH, I., L. BUSL, M. EHNLE-LOSSOS, A. ELFLEIN, E. GOOS-BALLING, R. WERNER, I. HOFFMANN, P.G. FERRARIO und S.A. ROSER. Produktmonitoring 2019: Ergebnisbericht, Version 2.0, Juni 2020 [online], 2020 [Zugriff am: 8. Juni 2021]. Verfügbar unter: https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Institute/EV/Produktmonitoring-2019_Ergebnisbericht-Version-2.0.pdf
(8) LEBENSMITTELVERBAND DEUTSCHLAND E. V. Leitlinien zur Minimierung von trans-Fettsäuren in Lebensmitteln [online]. Vierter Bericht zur gemeinsamen Initiative der deutschen Lebensmittelwirtschaft und des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), 2020 [Zugriff am: 8. Juni 2021].
(9) BUNDESMINISTERIUM FÜR ERNÄHRUNG UND LANDWIRTSCHAFT. Grundsatzvereinbarung zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen [online], 2020 [Zugriff am: 8. Juni 2021]. Verfügbar unter: https://www.zugutfuerdietonne.de/fileadmin/zgfdt/inhalt/Strategie/Grundsatzvereinbarung-final_web.pdf