Position/Stellungnahme

Stellungnahme zu aktualisierten Höchstmengenvorschlägen für Vitamine und Mineralstoffe in angereicherten Lebensmitteln des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR)

- Der Lebensmittelverband Deutschland e. V. begrüßt die Wiederaufnahme der Diskussion zur Festsetzung von Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Lebensmitteln. Erklärtes Ziel der Europäischen Kommission ist es, sich mit den Mitgliedstaaten auf einen Lösungsansatz und konkrete Werte zu verständigen, um eine Regelung mit EU-weit gültigen Höchstmengen erlassen zu können. Eine europäische Lösung wäre nicht nur aus Sicht des Verbraucherschutzes zu begrüßen, sondern würde zugleich für Rechtssicherheit für Unternehmen sorgen und den freien Warenverkehr in Europa gewährleisten.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hatte sich 2004 mit einem eigenen Modell und eigenen Höchstmengenvorschlägen in die Diskussion eingebracht. Mit Blick auf die anstehenden Diskussionen auf nationaler und europäischer Ebene hat das BfR auf Bitten des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) diese Vorschläge für Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Lebensmitteln aktualisiert. Bereits im Januar 2018 hatte das BfR aktualisierte Vorschläge für Höchstmengen für Nahrungsergänzungsmittel veröffentlicht. Seit März 2021 sind auch die aktualisierten Vorschläge für angereicherte Lebensmittel öffentlich verfügbar. Damit hat das BfR die Aktualisierung seiner Höchstmengenvorschläge abgeschlossen.

Auf die im Jahr 2018 veröffentlichten BfR-Vorschläge für Höchstmengen für Nahrungsergänzungsmittel hat der Arbeitskreis Nahrungsergänzungsmittel (AK NEM) des Lebensmittelverbandes bereits umfassend Stellung genommen. Zu den neusten BfR-Vorschlägen für Höchstmengen in angereicherten Lebensmitteln nehmen wir vorläufig wie folgt Stellung:

1. Jedes Modell zur Ableitung von Höchstmengen muss von realistischen Annahmen ausgehen.
Die wichtigsten Eckpunkte, die bei der Ableitung zu berücksichtigen sind, sind vom Gesetzgeber und dem Europäischen Gerichtshof bereits vor Jahren vorgegeben bzw. konkretisiert worden. Höchstmengen sind auf Grundlage von realen Verzehrdaten und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Risiken abzuleiten. Es gilt, solche Rahmenbedingungen festzulegen, die den sicheren Verzehr angereicherter Lebensmittel im Rahmen der täglichen und lebenslangen Ernährung der Konsumenten gewährleisten – und zugleich, wo immer möglich, die Wahlfreiheit der Verbraucher und der Unternehmen erhalten.

Das BfR legt seinem Modell und seiner Ableitung von Höchstmengen eine Reihe von Annahmen zugrunde, die insgesamt in einem sehr konservativen Ansatz mit sehr restriktiven Vorschlägen münden. So geht das BfR von einem jugendlichen (oder gar kindlichen) Verbraucher aus, der bereits durch die normale Ernährung für den jeweiligen Nährstoff eine sehr hohe Aufnahme aufweist (95. Perzentil), zusätzlich zwei Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt und zudem bis zu 30 Prozent seiner Energiezufuhr über angereicherte Lebensmittel deckt, die genau diesen Nährstoff enthalten – und dies „chronisch“, also tagtäglich und lebenslang. Diese Annahme deckt sich nicht mit dem realen Verbraucherverhalten, sondern stellt eine Kumulation von „worst-case-Annahmen“ dar und ist in Summe nicht durch reale Markt- oder Verzehrdaten gedeckt - und daher nicht zu rechtfertigen, schon gar nicht pauschal für alle Nährstoffe gleichermaßen.

Insbesondere war und ist der Markt der angereicherten Lebensmittel in Europa und in Deutschland nachweislich ein Nischensegment. Aktuelle Marktdaten zeigen, dass der Anteil von mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherten Lebensmitteln am Markt der vorverpackten Lebensmittel in Deutschland und in Europa in den letzten Jahren nicht signifikant gewachsen ist. Mit 5,4 Prozent Marktanteil am Gesamtmarkt ist die Bedeutung der angereicherten Lebensmittel sehr gering und stagniert seit Jahren. Vor diesem Hintergrund scheint es schwer begründbar, dass das BfR annimmt, die Konsumenten deckten bis zu 30 Prozent ihrer Tagesenergie durch angereicherte Lebensmittel. Das gilt umso mehr als das BfR selbst anführt, dass nur 30 Prozent aller Lebensmittel theoretisch angereichert werden können, weil ein Großteil der Lebensmittel (unverpackt und unverarbeitet) der Anreicherung überhaupt nicht zugänglich ist. Aktuelle Verzehrdaten belegen weiterhin, dass nur etwa ein Viertel der Bevölkerung Nahrungsergänzungsmittel verzehren und davon wiederum nur ein sehr geringer Anteil mehr als ein Produkt mit dem gleichen Nährstoff.

2. Den positiven Beitrag von angereicherten Lebensmitteln zur Gesamtzufuhr von wichtigen Vitaminen und Mineralstoffen gilt es zu bewahren.
Ausgehend von den Annahmen der theoretisch zwar möglichen, aber in Praxis wenig realen Gefahr der Mehrfachzufuhr über verschiedene Lebensmittel kommt das BfR so wenig überraschend zu sehr restriktiven Vorschlägen. Für eine Reihe von Nährstoffen soll überhaupt keine Anreicherung oder wenn, dann nur für spezielle Lebensmittelgruppen erlaubt werden. Ginge es nach den Vorstellungen des BfR, könnte beispielsweise zukünftig eine Anreicherung mit Magnesium nur noch in solchen Mengen möglich sein, die den gesetzlichen Vorgaben einer signifikanten Mindestmenge nicht mehr entsprächen – was einem de-facto-Verbot der Anreicherung gleichkäme. Eine Anreicherung mit Calcium wäre nur noch in Alternativprodukten für calciumreiche Lebensmittel, also nur noch für Ersatzprodukte für Milch und Milcherzeugnisse erlaubt. Die Anreicherung von anderen, calciumarmen Produkten wie beispielsweise Säften oder Brot und Brötchen mit Calcium ist jedoch gängige Praxis. Eine solche Anreicherung wäre in der jetzigen Form nicht mehr möglich, obwohl die Nachfrage seitens der Verbraucher besteht. Letztendlich würde es bedeuten, dass Verbrauchern, die keine Nahrungsergänzungsmittel verwenden (wollen) - und das ist mit 2/3 der Bevölkerung die Mehrheit -, die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Zufuhr mit diesen Nährstoffen durch angereicherte Lebensmittel ihrer Wahl zu verbessern.

Dabei hat der Gesetzgeber die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Anreicherung geschaffen, weil es „kritische“ Vitamine und Mineralstoffe gibt, die in der Bevölkerung oder Teilen der Bevölkerung in nicht ausreichenden Mengen zugeführt werden. So werden in Deutschland typischerweise etwa bei Vitamin D, Folat, Calcium und Jod sowie bei Eisen (Frauen im gebärfähigen Alter) seit Jahren und Jahrzehnten die empfohlenen Zufuhrmengen nicht erreicht. Die Situation ist in anderen Mitgliedstaaten vergleichbar. Auch bei anderen Nährstoffen erreichen nachweislich aufgrund von Ernährungsgewohnheiten und persönlichem Lebensstil recht beachtliche Teile der Bevölkerung die wünschenswerte Zufuhr nicht. Bei Vitamin E erreichen beispielsweise nur 52 Prozent die empfohlenen Mengen. Bei Vitamin C weist etwa ein Drittel und bei Magnesium etwa ein Viertel der Bevölkerung eine zu niedrige Zufuhrmenge im Vergleich zu den Empfehlungen auf. Nahrungsergänzungsmittel wie auch angereicherte Lebensmittel können hier helfen, die Versorgungslücken zu schließen. All das sind keine neuen Erkenntnisse, der Gesetzgeber hat das vielmehr bereits vor 20 Jahren bei Erlass der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie festgestellt. Ebenso hält er dies im Jahr 2008 erneut in Begründungserwägung Nr. 7 der Anreicherungsverordnung fest, indem er ausführt, dass Lebensmittel mit zugesetzten Vitaminen und Mineralstoffen in signifikanter Weise zur Aufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen beitragen und somit einen positiven Beitrag zur Gesamtzufuhr liefern können.

3. Ein europäischer Konsens sollte auf Basis aktueller europäischer Sicherheitsbewertungen beruhen.
Es ist zwischenzeitlich akzeptiert, dass als Ausgangspunkt der Risikobewertung zur Festsetzung von Höchstmengen der sogenannte Tolerable Upper Intake Level (UL) dient, d. h. es sind, wo immer möglich, die Sicherheitsbewertungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) heranzuziehen. In den Fällen, in denen die EFSA keinen UL festgelegt hat und zugleich ein Gesundheitsrisiko durch eine zu hohe Aufnahme besteht, hat es sich bewährt, die Sicherheitsbewertungen anderer anerkannter Institutionen wie das US-Institute of Medicine (IOM) oder der britischen Expert Group on Vitamins and Minerals (EVM) einzubeziehen. Diesen Ansatz verfolgt auch das BfR. Allerdings weicht es in einigen Fällen von dieser Vorgehensweise ab.

So ist beispielsweise im Falle des Vitamin E nicht der UL der EFSA herangezogen worden, da nach Ansicht des BfR neuere Studien den UL in Frage stellen. Entsprechend kommt nicht das BfR-Modell zur Anwendung, sondern es wird „ein pragmatischer“ Ansatz gewählt und niedrigere Höchstmengen im „Rahmen des ernährungsphysiologischen Bereichs“ vorgeschlagen. Dies stellt jedoch keine sicherheitsbasierte Ableitung von Höchstmengen dar. Konsequent wäre gewesen, das Modell mit dem vorhandenen UL anzuwenden und zugleich darauf hinzuweisen, dass eine Überprüfung des UL für Vitamin E durch die EFSA für erforderlich gehalten wird. Dabei ist auch die Art und Schwere der möglichen negativen gesundheitlichen Effekte zu berücksichtigen. So sind bei Kalium in Höhe der EVM-Empfehlung beispielsweise nur unerwünschte, reversible gastrointestinale Effekte aufgetreten. Trotzdem führt dies das BfR als Begründung an, um einen niedrigeren Orientierungswert abzuleiten und zur Ableitung von Höchstmengen heranzuziehen. Daher ist es richtig, wie die Europäische Kommission schon angekündigt hat, die EFSA in den strittigen Fällen mit der Überprüfung von Sicherheitsbewertungen zu beauftragen.

4. Bei der Beurteilung der Verbreitung und Anwendung relevanter Produkte sind die aktuellsten Marktdaten zu berücksichtigen.
Grundlage jeder Sicherheitsbewertung und Höchstmengenableitung müssen die aktuellsten Daten sein. Dies gilt für die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien ebenso wie für die Daten über die Marktrelevanz von Lebensmitteln. Diesem Anspruch wird das BfR nicht gerecht. So stützen sich etwa die Empfehlungen des BfR zu Vitamin K auf veraltete Marktdaten zur Anwendung von Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ (Vitamin-K-Antagonisten) aus dem Jahr 2014 bzw. 2012. Diese Daten spiegeln die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts in Deutschland und Europa nicht wider.

Neuere Daten zu Arzneimittelverordnungen in Deutschland und anderen Ländern verdeutlichen, dass die Bedenken des BfR bezüglich Wechselwirkungen von Vitamin K weniger relevant sind als ursprünglich angenommen. So kann neueren Barmer Arzneimittelreporten entnommen werden, dass in den letzten Jahren die Verwendung von Antikoagulanzien vom Cumarin-Typ gesunken ist, dafür kontinuierlich steigende Verordnungsraten der neuen Generation von oralen Antikoagulantien (direkte Antikoagulanzien, die keine Interaktionen mit Vitamin K aufweisen) zu verzeichnen sind. Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Empfehlung des BfR hinsichtlich eines generellen Ausschlusses der Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin K in Frage zu stellen. Wenn überhaupt könnte für eine gewisse Übergangszeit die Verwendung eines Warnhinweises für Patienten, die Antikoagulanzien des Cumarin-Typs einnehmen, sinnvoll sein. Allerdings ist davon auszugehen, dass die betroffenen Verbraucher bereits heute sehr gut über die Wechselwirkungen mit Vitamin K informiert sind.

5. Die Auswirkungen einer eingeschränkten Wahlfreiheit der Verbraucher und der unternehmerischen Freiheit sind sorgfältig zu prüfen und nur auf ein notwendiges Maß zu beschränken.
Die Gesundheit der Konsumenten ist ein hohes Gut, das es zu schützen gilt. Beschränkungen der ebenfalls geschützten unternehmerischen Freiheit – hier in Form der Anreicherung von Lebensmitteln - sind aber auch nur dann zu rechtfertigen, wenn sie durch tatsächliche und nicht nur theoretische Risiken zu begründen sind. Auch Einschränkung von Freiheitsrechten aufgrund des Verbraucherschutzes müssen verhältnismäßig sein. Das ist u.a. in Form von Folgenabschätzungen zu prüfen. Eine solche Folgenabschätzung hat das BfR zu seinen Vorschlägen für das Risikomanagement nicht durchgeführt – und auch das BMEL hat dies nicht veranlasst. Es ist zu erwarten, dass die im europäischen Vergleich eher restriktiven Vorschläge des BfR, die derzeit keine rechtlichen Auswirkungen haben, deutlich größere Auswirkungen haben werden als etwa die bereits gesetzlichen Regelungen und etablierten Empfehlungen anderer Mitgliedstaaten. Glücklicherweise besteht auf europäischer Ebene seit über 20 Jahren die Verpflichtung zur Durchführung einer Folgenabschätzung, dessen Relevanz und Vollständigkeit von der unabhängigen Stelle für Regulierungskontrolle überprüft wird. Dabei müssen nicht nur die Auswirkungen auf heutige Marktbegebenheiten, sondern auch die möglichen Konsequenzen für zukünftige Marktentwicklungen und Innovationen integraler Bestandteil eines entsprechenden Vorschlags sein.

Besonders kritisch zu sehen ist auch, dass für die Ableitung von Höchstmengen für die Allgemeinbevölkerung auf die besonderen Anforderungen von z. B. Personen mit chronischen Krankheiten oder Stoffwechselanomalien abgestellt wird. Wenn überhaupt, ist bei Bedarf bei besonderem Schutzbedürfnis einzelner Personengruppen im Rahmen des Risikomanagements über (Warn-)Hinweise auf den Produkten nachzudenken. Auch ist eine Diskriminierung oder eine unnötige Belastung einzelner Branchen zugunsten anderer Produktkategorien zu vermeiden. Schließlich haben sowohl angereicherte Lebensmittel als auch Nahrungsergänzungsmittel ihren festen Platz im modernen Produktangebot, so ist es vom Gesetzgeber gewollt und von den Verbrauchern gewünscht.