Behauptungen des BMEL genauer betrachtet

Faktencheck „Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung“

- Wir haben uns die Aussagen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zum „Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung“ genauer angeschaut.
Zwei Kinder sitzen auf dem Wohnzimmerboden und sehen fern.
© Fran Rodriguez - stock.adobe.com
Bildunterschrift anzeigen

Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen- und Kinderärzten, objektive, zielgruppenspezifische und mehrsprachige Ernährungsbildung für Kinder und Eltern ab Kita-Alter, kostenfreie und für jeden zugängliche Bewegungsförderung, eine breite Produktvielfalt für jeden Lebensstil – es gibt viele Stellschrauben, an denen nachhaltig und zielführend gedreht werden kann, um Übergewicht bei Kindern einzudämmen. Werbeverbote gehören nicht dazu.

1. Behauptung: Es geht um Werbung für Lebensmittel, die einen hohen Zucker-, Fett- und/oder Salzgehalt haben.

Fakt: Nein, es wären ca. 70 Prozent (!) aller auf dem Markt befindlichen Produkte von dem Werbeverbot betroffen. Das Problem sind die hier vom BMEL zu Grunde gelegten WHO-Nährwertprofile. Die von der Weltgesundheitsorganisation 2015 veröffentlichten Nährwertprofile für Europa („WHO Regional Office for Europe nutrient profile model“) teilen das Lebensmittelangebot anhand Kategorie-abhängiger Höchstgehalte für ausgewählte Nährstoffe (Gesamtfett, gesättigte Fettsäuren, Gesamtzucker, zugesetzter Zucker, Salz), der Verwendung von Süßungsmitteln und z. T. auch dem Energiegehalt in vermeintlich „gute“ (im wesentlichen unverarbeitetes Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, unverarbeitetes Fleisch und Fisch) und „schlechte“ (nahezu alle anderen) Lebensmittel ein. Die Bezugsgröße für die Höchstgehalte ist dabei unabhängig von der üblichen Verzehrmenge immer 100g eines Lebensmittels. Bestimmte Lebensmittelgruppen sind per se, d. h. ganz ohne Höchstgehalte, von der Bewerbung ausgeschlossen.

2. Behauptung: Es ist nur Werbung betroffen, die sich an Kinder richtet.

Fakt: Nein, denn schaut man sich die Auflistung der betroffenen Inhalte/Formate an, stellt man fest, dass es sich um ein nahezu vollständiges Werbe- und Sponsoringverbot handelt.  In der Pressemitteilung des BMEL (Nummer 24 vom 27. Februar 2023) heißt es:

„Zudem soll Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt nicht mehr zulässig sein, wenn sie Kinder zwar nicht nach Art, Inhalt oder Gestaltung, jedoch aufgrund des Werbeumfeldes oder des sonstigen Kontextes adressiert, d. h.

  • wenn sie zwischen 6 und 23 Uhr betrieben und damit bewusst in Kauf genommen wird, dass sie regelmäßig insbesondere auch von Kindern wahrgenommen wird bzw. wahrgenommen werden kann,
  • wenn sie im Kontext mit auch Kinder ansprechenden Inhalten betrieben wird,
  • wenn sie in Form von Außenwerbung im Umkreis von 100 Metern betrieben wird zu
    • Freizeiteinrichtungen, die ihrer Art nach oder tatsächlich vor allem von Kindern besucht werden, oder
    • Schulen, Kindertageseinrichtungen oder Spielplätzen.
  • An Kinder gerichtetes Sponsoring für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt soll ebenfalls nicht mehr zulässig sein.“

3. Behauptung: Die WHO-Nährwertprofile sind europäisch eingeführt und praxiserprobt.

Fakt: Falsch, die WHO-Nährwertprofile sind nicht Bestandteil verbindlicher europäischer Regulierung und Gesetzgebung. Sie werden bisher in modifizierter Art in Portugal als einzigem Land eingesetzt, es liegen jedoch noch keinerlei Ergebnisse und Beobachtungen dazu vor, so dass man auch nicht von einer Praxiserprobung sprechen kann.

4. Behauptung: Jedes Kind in Deutschland zwischen 3 und 13 Jahren schaut pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel und 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, vermarkten  Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten.

Fakt: Falsch, diese Behauptungen basieren auf methodisch nicht haltbaren Untersuchungen im Auftrag von Kampagnenorganisationen. Tatsächlich sieht die Lage nach den Daten der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) im Bereich TV wie folgt aus:

  • 98 Prozent der Primetime-Zuschauer sind über 14 Jahre alt, unter zwei Prozent sind zwischen 3 und 13 Jahre alt – über 365 Tage im Jahr und alle Fernsehsender hinweg.
  • In den Jahren 2019 bis 2022 waren von den 100 Sendungen mit der höchsten Sehbeteiligung bei den 3- bis 13-Jährigen nur 27 Sendungen mit Werbung.
  • Der Hauptanteil der Sendungen mit einer hohen Sehbeteiligung der 3- bis 13-Jährigen ist werbefrei – entweder laufen diese Sendungen auf dem grundsätzlich werbefreien Kinderkanal Kika oder – wie Fußball – bei ARD und ZDF nach 20 Uhr.

https://zaw.de/keine-evidenzbasierte-politik-bmel-kuendigt-weitgehendes-totalwerbeverbot-fuer-lebensmittel-an/

5. Behauptung: Die Wirtschaft argumentiert, dass Werbung keine Effekte habe.

Fakt: Falsch. Der Lebensmittelverband argumentiert, dass keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung und die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren. Zu diesem Ergebnis kommt übrigens auch die wissenschaftliche Behörde des BMEL, nämlich das Max Rubner-Institut (MRI), das letztes Jahr laufende und geplante nationale Werberegulierungsmaßnahmen in 17 europäischen Ländern sowie entsprechende Evaluations- und Wirksamkeitsstudien analysiert hat. Das Fazit: Im Rahmen der Recherche konnten keine belastbaren Wirksamkeitsstudien identifiziert werden.

https://www.openagrar.de/receive/openagrar_mods_00078172

6. Behauptung: Lebensmittelwerbung hat einen nachhaltigen Einfluss auf das Ernährungsverhalten bei unter 14-Jährigen.

Fakt: Die Behauptung ist irreführend. Nach einer kürzlich von der WHO in Auftrag gegebenen systematischen Überprüfung und Metaanalyse* wurde zwar ein signifikanter Unterschied bei der Nahrungsaufnahme und der Nahrungsmittelpräferenz festgestellt, allerdings mit einer sehr geringen Beweissicherheit. Außerdem handelt es sich bei den Studien meistens um experimentelle Laborstudie. Dies bedeutet, dass im Labor Unterschiede gefunden werden können, die sich nicht eins zu eins auf das reale Leben übertragen lassen, da es viele andere Faktoren gibt, die für den Lebensmittelkonsum (und letztlich den Ernährungszustand) relevanter sind als das Marketing, wie z. B. Gewohnheiten, Preis, Zugänglichkeit und Wissen.

*Boyland et al. Association of Food and Nonalcoholic Beverage Marketing With Children and Adolescents’ Eating Behaviors and Health. AMA Pediatr. doi:10.1001/jamapediatrics.2022.1037. 2022.

7. Behauptung: Der übermäßige Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett oder Salz trägt zur Entstehung von Übergewicht und ernährungsmitbedingten Erkrankungen, wie z .B. Adipositas und Diabetes bei.

Fakt: Die Behauptung ist irreführend! Diese Aussage stützt sich zumeist auf beobachtende Korrelationsstudien, die aufgrund ihrer Methodik, wie z. B. ihrer Anfälligkeit für Verzerrungen aufgrund von nicht im Studiendesign berücksichtigten Lebensstilfaktoren, keine Kausalität feststellen können. Die einzige experimentelle Studie zum Thema hat auch methodische Limitationen, was es unmöglich macht, zu verallgemeinern. Davon abgesehen gilt für alle Lebensmittel, dass man diese nicht im Übermaß verzehren sollten („Die Dosis macht das Gift“), da eine einseitige Ernährung generell zu Nährstoffdefiziten führen kann. Der Begriff „hochverarbeite Lebensmittel“ ist zudem rechtlich nicht definiert. Auch in der Wissenschaft gibt es keinen Konsens über ein Klassifizierungssystem für Lebensmittel nach dem Verarbeitungsgrad.

8. Behauptung: Jeder siebte Todesfall in Deutschland ist laut Daten der OECD auf ungesunde Ernährung zurückzuführen.

Fakt: Die Behauptung ist irreführend! Die OECD sagt konkret „auch ungesunde Ernährung, die mit 14 Prozent aller Todesfälle in Verbindung gebracht wird, trägt in Deutschland erheblich zur Sterblichkeit bei“. Das bedeutet nicht, dass Ernährung die alleinige Ursache ist, sondern lediglich, dass sie auch eine Rolle spielt.

*OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2021), Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2021, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.

9. Behauptung: Werbeverbote funktionieren.

Fakt: Die Behauptung ist irreführend! Richtig ist, dass es Untersuchungen gibt, wonach sich das Kaufverhalten bestimmter Produkte durch Werbeverbote verschoben hat bzw. gesunken ist. Allerdings sagt das Kaufverhalten noch nichts über die Übergewichtsentwicklung aus, die als Zielgröße für die Maßnahme „Werberestriktionen“ genannt wird. In Großbritannien beispielsweise gibt es bereits seit mehr als 15 Jahren Werbeverbote und die Übergewichts- und Adipositasraten sind dadurch nicht gesunken. Daten aus dem Jahr 2021/2022 des National Child Measurement Programme zeigen beispielsweise, dass fast 38 Prozent der zehn- bis elfjährigen Kinder übergewichtig sind, 23 Prozent davon sogar adipös. Übrigens: In Deutschland sind laut KiGGS-Welle 2 ca. 15 Prozent der Drei- bis 17-jährigen übergewichtig und davon knapp sechs Prozent adipös. Das britische „Impact Assessment“ aus 2021 zeigt zudem, dass die unmittelbar durch Werberegulierungen zu erwartende Kalorienreduktion bei ca. zwei Kilokalorien pro Tag und Kind liegt – also weniger als eine Schokolinse pro Tag.

https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/996232/impact-assessment-hfss-advertising.pdf

Zum Schluss der Hinweis: Werbung findet nicht im rechtsfreien Raum statt, besonders dem Schutz der Kinder wird Rechnung getragen. Zudem gelten die Verhaltensregeln des Deutschen Werberats. Diese umfassen unter anderem das Verbot einer direkten Kauf- und Konsumaufforderung. Auch Werbung, die den Eindruck erweckt, der Verzehr eines bestimmten Lebensmittels sei für eine ausgewogene Ernährung unersetzlich, ist zu unterlassen. Ebenso sind Inhalte und Darstellungen verboten, die dem Erlernen eines gesunden, aktiven Lebensstils entgegenwirken.