Stellungnahme

Replik auf die taz zum Faktencheck Werbung

- Am 13. März hat die Tageszeitung taz einen Artikel online veröffentlicht, in welchem sie sich mit dem Faktencheck „Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung“ des Lebensmittelverbands auseinandersetzt und Gegenstimmen dazu einholt.
Mädchen mit Lebensmitteln im Einkaufswagen im Lebensmittelgeschäft.
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Wir haben uns den Artikel „Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel: Süßes kriegt Saures – könnte wirken angeschaut und beziehen im Folgenden Stellung zu den Aussagen der befragten Zitatgeber.

1. Die taz schreibt: Behauptung: Werbeverbote würden nicht den Anteil übergewichtiger Kinder verringern, sagt der Lebensmittelverband. Die Lobbyorganisation der Nahrungsmittelwirtschaft wendet ein, „dass keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung und die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren“.

Analyse: Ob der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, die Techniker Krankenkasse, das Wissenschaftsbündnis Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten oder die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin – alle fordern, Werbung für Lebensmittel mit viel Fett, Zucker oder Salz stark einzuschränken. 2020 tat das sogar der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim damals noch von der CDU geführten Ministerium.

Sie berufen sich zum Beispiel auf Überblicksstudien wie die eines Teams um den britischen Wissenschaftler Simon Russell. Danach nehmen Kinder mehr Kalorien zu sich, wenn sie Werbung für Lebensmittel sehen. Solche Ergebnisse hatten einerseits Beobachtungsstudien, bei denen erhoben wurde, wie viel entsprechende Werbung und wie viele Kalorien Kinder konsumierten. Aber auch in Experimenten zeigte sich, dass Werbung den Konsum erhöht.

Unsere Antwort: Wir wenden ein, dass es keine belastbaren Studien gibt, weil nicht wir uns das ausgedacht haben, sondern das Max Rubner-Institut dieses Ergebnis auf dem 59. Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 2022 vorgestellt hat. Die wissenschaftliche Behörde des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat geplante und bestehende nationale Werberegulierungsmaßnahmen in 17 europäischen Ländern sowie entsprechende Evaluations- und Wirksamkeitsstudien analysiert. Das Fazit: Im Rahmen der Recherche konnten keine belastbaren Wirksamkeitsstudien identifiziert werden (zum Ergebnis der Recherche). Dass es trotzdem Forderungen nach Werberestriktionen der genannten Gruppen gibt, zeigt, dass hier Symbolpolitik auf Basis sehr schwacher wissenschaftlicher Evidenz gemacht wird. Passend zu dem Ergebnis des Max Rubner-Instituts, hat auch der jüngste, im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation erstellte systematische Übersichtsartikel keine Studien identifizieren können, die die Auswirkungen von Werberestriktionen auf die aus unserer Sicht entscheidenden Endpunkte Körpergewicht, BMI, Adipositas oder nichtübertragbare Krankheiten untersucht haben. Dass die Autoren sich trotzdem für Werberestriktionen aussprechen, ist ihre Interpretation der Ergebnisse. Wir sind der Meinung, dass Eingriffe in den Markt nur dann erfolgen dürfen, wenn sie verhältnismäßig sind und die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz in Bezug auf die entscheidenden Endpunkte (Körpergewicht, BMI, nichtübertragbare Krankheiten) hoch ist. Ob das von Bundesminister Özdemir vorgeschlagene Werbungsverbot seinen Zweck erfüllen wird, lässt sich auf Basis der bisherigen Studienlage kaum beantworten. Das ist übrigens nicht unsere Einschätzung, sondern die von Cochrane Deutschland.

In der öffentlichen Diskussion werden häufig Studien angeführt, die sich nicht direkt mit den Auswirkungen von Werbebeschränkungen befassen, sondern die Effekte von Werbung untersuchen und hieraus indirekt ableiten, welche Auswirkungen mit einer Beschränkung von Werbung verbunden sein könnte. Auch zu dieser Frage hat die Weltgesundheitsorganisation eine systematische Übersichtsarbeit in Auftrag gegeben. Im Rahmen dieser Übersichtsarbeit wurde ein signifikanter Unterschied bei der kurzfristigen Nahrungsaufnahme und der Nahrungsmittelpräferenz festgestellt, allerdings mit einer moderaten, geringen oder sogar sehr geringen Vertrauenswürdigkeit der Evidenz: „The certainty of evidence was graded as very low to moderate for intake and choice, and very low for preference and purchasing.”

Es verwundert daher nicht, dass auch diese Übersichtsarbeit eine sehr geringe Evidenz für einen Zusammenhang zwischen der Bewerbung von Lebensmitteln und den aus unserer Sicht relevanten Endpunkten Körpergewicht und BMI feststellt und keine Studien identifizieren konnte, die Zusammenhänge mit nichtübertragbaren Krankheiten untersucht haben: “Very little evidence was available on the association between food marketing and body weight or BMI. This review identified a single, moderate-quality observational NRS with no significant associations. The certainty of evidence was very low (risk of bias, indirectness). No studies were found with relevant data on diet-related NCDs or validated surrogate indicators.”

Dass die Autoren aus dieser Datenlage dennoch Forderungen nach Werbebeschränkungen ableiten, ist wiederum ihre Interpretation der Ergebnisse. Wie bereits ausgeführt, erwarten wir Eingriffe in den Markt nur dann erfolgen, wenn Sie verhältnismäßig sind und die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz hoch ist.

2. Die taz schreibt: Behauptung: Die Beobachtungsstudien sind laut Lebensmittelverband anfällig für Verzerrungen der Ergebnisse. Ursache für die Fehlernährung könnten statt der Werbung „Lebensstilfaktoren“ sein.

Analyse: „In den einschlägigen Studien wurde durch die Methodik sichergestellt, dass die beobachteten Effekte nicht durch sogenannte Störfaktoren wie das soziale Umfeld oder Bildung zu erklären sind“, sagte der taz Peter von Philipsborn, Mediziner und Public-Health-Experte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bei Beobachtungsstudien werde der Einfluss der Störfaktoren minimiert, indem man zum Beispiel nur Kinder aus Haushalten mit ähnlichem Einkommen vergleicht. „Bei den experimentellen Studien werden die Probanden zufällig in die Untersuchungs- und die Kontrollgruppe eingeteilt.“ Nur die Untersuchungsgruppe sehe die Werbung für ungesündere Lebensmittel.

Unsere Antwort: Wir sprechen keinem Wissenschaftler ab, die Methodik der durchgeführten Studien sorgfältig zu planen. Fakt ist aber auch, dass Störfaktoren statistisch nie zu 100 Prozent kontrolliert werden können. Das liegt zum Beispiel daran, dass in Beobachtungsstudien immer nur einschlägige bekannte Störfaktoren erfasst und in der späteren Analyse statistisch kontrolliert werden können (z. B. der erwähnte sozioökonomische Status). Experimentellen Studien mit Randomisierung, also der zufälligen Aufteilung auf Untersuchungs- und Kontrollgruppe, sind grundsätzlich geeignet Kausalitäten abzuleiten, allerdings häufig z. B. durch eine kleine Stichprobengröße in ihrer Aussagekraft eingeschränkt. Unter anderem aus diesen Gründen ist allgemein anerkannt, dass eine Evidenzbasierung die systematische Begründung und Integration möglichst aller empirischer Befunde aus hochwertiger Forschung erfordert, um eine bestimmte Forschungsfrage zu beantworten.

In unserem Faktencheck bezieht sich die Aussage zum Einfluss von Lebensstilfaktoren u. a. auch auf die Behauptung, dass der übermäßige Verzehr „hochverarbeiteter Lebensmittel“ mit zu viel Zucker, Fett oder Salz zur Entstehung von Übergewicht und ernährungsmitbedingten Krankheiten beitrage. Ohne Frage ist ein „übermäßiger“ Verzehr nicht gesundheitsförderlich. Das gilt jedoch für alles was wir unserem Körper zuführen. Der Begriff „hochverarbeitete Lebensmittel“ ist nach unserer Kenntnis nicht einheitlich definiert. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Arbeitsgruppe „Stark verarbeitete Lebensmittel“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Ihr Fazit zur Einordnung von Lebensmitteln nach dem Verarbeitungsgrad und Bewertung gängiger Klassifizierungssysteme in der Ernährungsforschung ist, dass ein einheitliches System zur Bewertung von Lebensmitteln nach Verarbeitungsgrad fehlt. Dies hat vor allem auch Folgen für die Vergleichbarkeit der Studien zu diesem Thema und damit für die systematische Bewertung der Evidenz.

3. Die taz schreibt: Behauptung: Dass Untersuchungen zufolge das Kaufverhalten bestimmter Produkte gesunken ist, sage nichts darüber aus, wie sich das Übergewicht in der Bevölkerung entwickelt. „In Großbritannien beispielsweise gibt es bereits seit mehr als 15 Jahren Werbeverbote und die Übergewichts- und Adipositasraten sind dadurch nicht gesunken“, argumentiert der Lebensmittelverband.

Analyse: „Ohne die Maßnahme hätten sich die Zahlen wahrscheinlich noch kritischer entwickelt“, sagt Oliver Huizinga, politischer Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. „Werbeschranken sind ein zentraler Baustein, aber keine Einzelmaßnahme löst die Adipositas-Epidemie mal eben in Luft auf.“ Zudem seien die Werbeverbote in Großbritannien ohnehin nicht scharf genug gewesen. Sie untersagen Werbung für Lebensmittel mit viel Fett, Zucker oder Salz nur dann, wenn das Publikum der betroffenen Medien zu mehr als 25 Prozent aus unter 16-Jährigen besteht. „Das heißt, dass einige der Sendungen, die Kinder am meisten sehen, … nicht von den aktuellen Restriktionen erfasst werden“, so das britische Ministerium für Digitales, Kultur, Medien und Sport. Zwar werde Kindern weniger Werbung für solche Lebensmittel gezeigt, aber „es gibt immer noch Milliarden von Kontakten“ dieser Altersgruppe mit diesen Produkten schon allein im Fernsehen.

Unsere Antwort: Die Aussage von Oliver Huizinga ist eine reine Vermutung und wissenschaftlich nicht haltbar. In Großbritannien war die Übergewichtsentwicklung bei Kindern seit 2006 gleichgeblieben und ist dann 2020 angestiegen. Mittlerweile ist sie wieder leicht gesunken auf das Niveau von 2006 und liegt zwischen 22 und 23 Prozent bei den 4- bis 5-Jährigen und bei knapp 38 Prozent bei den 10 bis 11-Jährigen (Patterns and trends in child obesity). An welcher Stelle sich hier eine möglich kritische Entwicklung ohne die seit 2007 geltenden Werberestriktionen abzeichnet, ist fraglich. Auch die Behauptung, dass die Regelungen in Großbritannien nicht scharf genug seien und deshalb keine Wirkung zeigen würde, ist eine reine Vermutung.

4. Die taz schreibt: Behauptung: Die WHO habe die Grenzwerte für Fett, Zucker und Salz in einem „intransparenten Prozess“ erarbeitet, so der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft.

Analyse: Die WHO hat das Modell zusammen mit vielen Mitgliedstaaten entwickelt. Es gab Expertenanhörungen sowie Pilot-Tests in mehreren Ländern.

Unsere Antwort: Allein die Kürze der Analyse spricht Bände und sagt viel aus. Wir sind gespannt und freuen uns auf die Namen aller Projektbeteiligten, aller Experten der Anhörungen und die Nennung der Studien, die die Höchstwerte für Zucker, Fett und Salz begründen.