Interview mit Prof. Dr. Gerd Gigerenzer über Nudging

„Was wir brauchen, ist Aufklärung – nicht Manipulation“

- Was bedeutet eigentlich Nudging – und bringt es wirklich etwas? Im Gespräch mit dem Psychologen und Risikoforscher Prof. Dr. Gerd Gigerenzer wird schnell klar: Der Begriff ist in Mode, aber meist missverstanden.
Geteilte Schale links mit frischem Salat und rechts mit Kartoffelchips auf pastellfarbenem Hintergrund. Vergleich von gesundem Essen und Junk Food.
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Herr Professor Gigerenzer, was genau versteht man unter Nudging?

Nudging bedeutet, Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken, indem man ihre kognitiven Schwächen – etwa Bequemlichkeit oder Denkfehler – ausnutzt. Es geht nicht um finanzielle Anreize oder sachliche Information, sondern um subtile Manipulation. Der Trick: Man bringt Menschen dazu, das zu tun, was sie angeblich selbst wollen würden – wenn sie rational wären.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Nehmen Sie die Organspende. Bei der sogenannten Widerspruchslösung ist jeder automatisch Spender, außer er widerspricht. Das funktioniert, weil viele Menschen schlicht nichts tun – also bleibt der Status bestehen. Das nutzt unsere Trägheit aus. Der Haken: Mehr potenzielle Spender bedeuten nicht automatisch mehr tatsächliche Spenden. Studien zeigen, dass die realen Zahlen dadurch kaum steigen.

In welchen Bereichen wird Nudging außerdem eingesetzt?

Zum Beispiel in der Gesundheitskommunikation. Die WHO warnte einmal: Wer täglich 50 g Wurst isst, erhöht sein Darmkrebsrisiko um 18 Prozent. Klingt dramatisch – ist es aber nicht. Das Risiko steigt tatsächlich nur von 5 Prozent auf 5,9 Prozent. Das ist ein relativer Anstieg, der absolut kaum ins Gewicht fällt. Solche Zahlen wirken manipulativ, weil sie Ängste schüren – anstatt aufzuklären.

Und im Bereich Ernährung?

In Kantinen stellt man vermeintlich gesunde Speisen nach vorne, Ungesundes nach hinten – in der Hoffnung, dass mehr Menschen zum Salat greifen. Einzelne Studien zeigen kurzfristige Effekte, aber Meta-Analysen belegen: Nudging allein ändert das Essverhalten nicht dauerhaft. Oft wird der Effekt sogar durch sogenannte Kompensationseffekte aufgehoben – Menschen holen sich dann eben später Chips oder Schokolade.

Was ist denn die Alternative zum Nudging?

Aufklärung und echte Gesundheitsbildung – besonders bei Kindern. Statt Menschen zu manipulieren, sollten wir ihnen beibringen, selbst zu entscheiden. Dafür brauchen wir Transparenz, verständliche Informationen und klare gesetzliche Regeln. Nur so kann echte Kompetenz entstehen.

Wie sehen Sie ein Kennzeichnungssystem wie den Nutri-Score, ist so etwas Nudging?

Solche Ampelsysteme sind eine gute Sache – sofern transparent ist, wie sie zustande kommen. Sie bieten echte Information, keine Täuschung. Sie sind kein Nudge. Der Nutri-Score soll etwas verständlich machen, nicht austricksen.

Ist das Trinkgeld-Vorschlagssystem auf Kartenlesegeräten auch Nudging?

Es ist vor allem ein gutes Beispiel für psychologische Tricks im Alltag. Wenn die Optionen 10 Prozent, 15 Prozent oder 20 Prozent lauten, wählen viele den Mittelwert – weil er „normal“ wirkt. In den USA ist das noch extremer. Das Ziel ist klar: mehr Umsatz. Auch Cookie-Einwilligungen im Netz funktionieren ähnlich. Solche Mechanismen beeinflussen uns oft unbemerkt.

Gibt es einen einfachen Hinweis, woran man Nudging erkennt?

Achten Sie auf Prozentangaben ohne Kontext. Wenn Ihnen jemand sagt, Ihr Risiko steige um 20 Prozent, fragen Sie: 20 Prozent von was? Wer den Bezug nicht kennt, wird leicht in die Irre geführt. Nudging nutzt genau solche Unklarheiten.

Und wie sieht es im Alltag mit Kindern aus – ist es okay, wenn Eltern ein bisschen „anstupsen“?

Natürlich erzählen Eltern ihren Kindern „Geschichten“. Das ist normal. Aber irgendwann sollte man ehrlich werden. Wenn Kinder merken, dass etwas nicht stimmt – z. B. bei Karotten und der Super-Sehkraft – verlieren sie Vertrauen. Viel wichtiger ist es, gemeinsam zu kochen, Vorbild zu sein und die Freude an gesunder Ernährung zu fördern.

Zum Schluss: Was stört Sie am meisten am Hype um Nudging?

Dass es ablenkt von dem, was wirklich wichtig ist: strukturelle Lösungen, Bildung und Transparenz. Nudging erzeugt oft Scheinerfolge – wie bei der Organspende – und wird als Ausrede genutzt, um keine wirksamen politischen Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb: Weniger Modewörter, mehr Ehrlichkeit. Was wir brauchen ist Aufklärung, nicht Manipulation.

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