Interview mit Nils Binnberg über die Essstörung Orthorexie

Orthorexie – der Zwang, sich gesund zu ernähren

- Journalist und Autor Nils Binnberg litt einige Jahre selbst an Orthorexie und veröffentlichte 2019 sein erstes Buch. Worin er die Sucht nach gesundem Essen erklärt und wie sich die Krankheit auf sein Leben ausgewirkt hat, erzählt er im Interview.
Hände, die sich an einem Gefängnisgitter aus Obst und Gemüse festhalten.
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Herr Binnberg, Sie sprechen offen über Ihre frühere Essstörung. Wie würden Sie Orthorexie kurz erklären?

Orthorexie ist die krankhafte Fixierung auf gesunde Ernährung. Viele denken zunächst: Klingt doch eigentlich gut, wer will sich nicht gesund ernähren? Aber es wird schnell zwanghaft. Man unterteilt Lebensmittel in „gut“ und „böse“, schränkt sich immer weiter ein, verliert Lebensfreude – und oft auch drastisch an Gewicht. Anders als bei der Magersucht zählt man keine Kalorien, sondern verbannt vermeintlich „ungesunde“ Lebensmittel. Der Effekt ist ähnlich: Man lebt im Mangel, psychisch wie physisch.

Wie sah Ihr Alltag in der Hochphase der Orthorexie konkret aus?

Rückblickend war er vor allem eines: erschöpfend. Den ganzen Tag sprangen die Gedanken zum Essen. Oder schlimmer: zum Nichtessen. Was mir früher so durch den Kopf gegangen ist: Nach dem Essen lieber nichts trinken? Sind in Cashews eigentlich genügend Aminosäuren? Hat Hafermilch zu viel Zucker? Oder lieber bis mittags einfach gar nicht essen? Ich war wie in einem Dauermodus aus Ernährungssimulation und Selbstoptimierung. Ich hatte mir über Internetrecherche im Grunde ein eigenes kleines Ernährungsstudium zusammengeschustert. Spontan irgendwo essen gehen? Undenkbar. Ich habe Restaurants vorher gegoogelt, Speisekarten analysiert, und wenn nichts Passendes dabei war, behauptete ich, ich hätte schon gegessen – während ich innerlich kochte und der Magen knurrte. Essen war keine Freude mehr, sondern ein durchgetaktetes Regime.

Gab es für Sie einen klaren Anfang dieses Verhaltens?

Tatsächlich: eine Diät. Ich war Mitte dreißig, zum ersten Mal nicht mehr „Lauch“, sondern hatte ein kleines Bäuchlein. Ein Fitnesscoach machte einen Körperfett-Test und riet mir: „Keine Kohlenhydrate nach 18 Uhr.“ Nach drei Wochen hatte ich fünf Kilo verloren – hauptsächlich Wasser, wie ich heute weiß. Aber ich war überzeugt: Kohlenhydrate machen dick. Dann kam Paleo, Intervallfasten, Glutenfrei, Clean Eating– ich war komplett in der Spirale drin.

Wie sah denn so ein typischer Essensplan aus? Was haben Sie da gegessen?

Ich muss ein bisschen unterscheiden. Es gibt eine Anfangsphase, in der ich in das Ganze so reingeschlittert bin und dann die Hochphase kurz bevor mir bewusst wurde: ich bin krank. Erschreckenderweise waren es da tatsächlich nur noch fünf Lebensmittel, die ich mir erlaubt habe. Ein typisches Frühstück bestand aus einem Buchweizenbrei, weil er glutenfrei war. Gluten ist ein Klebeeiweiß, ein Protein im Brot, was es so schön elastisch und dehnbar macht. Aber ich hatte die Vorstellung, dass es meinen Darm verklebt und meine Verdauung träge macht, deswegen war das tabu. Diesen Brei hatte ich immer auf Reisen kofferweise dabei, weil es den nicht überall gab. Zum Mittag gab es geräucherten Lachs mit etwas Avocado. Der geräucherte Lachs, weil er sehr viel Proteine enthält, aber auch sehr viel L-Tryptophan, eine Aminosäure, die im Gehirn zu Serotonin verstoffwechselt wird und so für Glückshormone sorgen soll. Man muss natürlich extrem viel von diesem Stoff zu sich nehmen, damit das funktioniert. Und abends gab es meistens noch eine proteinreiche Mahlzeit, meistens Fleisch mit Salat. Ich habe wirklich versucht, Brot oder andere Kohlenhydrate zu umgehen. Und das hat sich wiederholt.

Hatten Sie damals das Gefühl, etwas zu vermissen?

Nein, im Gegenteil. Ich war überzeugt, „richtig“ zu essen – und fühlte mich überlegen. Im Supermarkt habe ich auf das Kassenband der anderen geschielt: Fertiggerichte, Schokoriegel – und ich mit meiner heiligen Avocado. Das fühlte sich an wie moralische Überlegenheit. Ich habe mir zwar eingeredet, dass ich genieße, aber eigentlich war es Zwang. Und Stress.

Was passierte, wenn Sie einmal gegen Ihre eigenen Regeln verstoßen haben?

Dann kamen Scham, Selbstverachtung, ein Gefühl von „Unreinheit“. Ich habe das oft mit exzessivem Sport ausgeglichen. In Supermärkten, die ich nicht kannte, hatte ich regelrechte Panikattacken. Ich habe minutenlang Zutatenlisten studiert, fühlte mich gestresst wie ein Steinzeitmensch auf der Jagd, mit dem Unterschied, dass mein Feind kein Raubtier, sondern ein falsch deklariertes Lebensmittel war.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie aus dieser Spirale herausgeholt hat?

Ja – ein Artikel in der New York Times. Es ging darin eigentlich um „Drunkorexie“, aber in einem Nebensatz wurde „Orthorexie“ erwähnt – ein Begriff des Alternativmediziners Steven Bratman. Er beschrieb PatientInnen, die sich extrem gesund ernährten und tugendhaft fühlten, aber in Wahrheit litten. Da habe ich mich sofort wiedererkannt. Das war der Anfang der Erkenntnis: Ich habe eine Essstörung.

Sie haben dann ein Buch geschrieben: „Ich habe es satt! Wie uns Ernährungsgurus krank machen“. War das Teil der Verarbeitung?

Definitiv. Es war meine Schreibtherapie. Als Journalist will ich Dinge verstehen, auch mich selbst. Ich wollte wissen: Warum bin ich auf diese Ernährungsgurus hereingefallen? Also habe ich begonnen, ihre Ratschläge und die zugrundeliegenden Ernährungsstudien zu hinterfragen. Da habe ich begriffen: Es geht bei Gesundheit gar nicht so sehr um Nahrung. Sie wird vor allem beeinflusst von Genen, Stress, Schlaf, Beziehungen, Sinn. Und: Essen ist kein Medikament.

Wie stark ist der gesellschaftliche Einfluss – auch durch Social Media?

Riesig. Internet-Gurus liefern einfache Lösungen, zusätzlich locken sie mit Rabattcodes. Die Algorithmen der sozialen Medien funktionieren wie Echokammern. Man sieht nur noch, was die eigene Überzeugung bestätigt. Gleichzeitig tragen auch traditionelle Medien und sogar Institutionen wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung zur Verunsicherung bei: Da wird Essen oft moralisiert – und Genuss bleibt außen vor.

Wie geht es Ihnen heute? Gibt es noch Rückfälle?

Im Alltag kaum. Aber wenn ich höre, jemand hat eine schwere Krankheit, denke ich schon: Vielleicht hilft hier Ernährung doch? Vielleicht verlängern Himbeeren mein Leben? Mein Verstand sagt mir, dass das Quatsch ist – aber das alte Denken kommt manchmal hoch. Es zeigt, wie tief diese Ideen sitzen.

Was wären Warnzeichen für Orthorexie – auch im Umfeld?

Wenn sich jemand mehr als drei Stunden am Tag mit Essen beschäftigt – das ist ein Warnsignal. Oder wenn Mahlzeiten nur noch unter dem Aspekt der „Funktion“ betrachtet werden: Proteine nach dem Training, kein Zucker, kein Gluten – das kann krankhaft werden. Das beobachte ich auch unter Männern, die manisch Kraftsport treiben. Tatsächlich gibt es die Essstörung Bigorexie, also die Sucht nach Muskeln und dieser die Ernährung unterzuordnen.

Was wünschen Sie sich für die Debatte über Ernährung?

Mehr Genuss, weniger Dogmen. Ich habe mal gezählt: In den deutschen Ernährungsempfehlungen kommt das Wort „Genuss“ exakt einmal vor. In Frankreich? Über dreißig Mal. Das sagt alles. Wir sollten Ernährung gelassener sehen. Vielfalt statt Verzicht. Essen sollte schmecken– und nicht zur Ersatzreligion werden.

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