Wie sich unser Essalltag verändert – ein Gespräch mit Prof. Dr. Jana Rückert-John

Wandel ist ohne Routine nicht denkbar

- Wie sich unser Alltag rund ums Essen wandelt – und warum dieser Wandel nicht einfach, aber möglich ist, erklärt Prof. Dr. Jana Rückert-John, Soziologin an der Hochschule Fulda. Ein Gespräch über Routinen, Ernährungsarmut, In-vitro-Fleisch, Genuss und die Rolle der Kommunikation.
Eine Frau in einem weißen Laborkittel präsentiert einen Teller mit Salat in einer futuristischen Umgebung.
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Frau Prof. Rückert-John, wird sich unser Essverhalten in den kommenden Jahren überhaupt verändern – oder bleibt alles, wie es ist?

Es verändert sich – das wissen wir aus zahlreichen Studien. Nehmen wir den Fleischkonsum: Der ist in Deutschland von 61 Kilo pro Kopf im Jahr 2018 auf rund 51,6 Kilo gesunken, bevor er 2024 wieder leicht auf 53,2 Kilo gestiegen ist. Veränderungen sind also nicht geradlinig – sie verlaufen in Wellen. Aber ganz klar: Es gibt Wandel.

Welche Faktoren beeinflussen diesen Wandel?

Ein zentraler Punkt sind Routinen. Sie geben unserem Essalltag Struktur, Sicherheit – und wirken gleichzeitig oft als Beharrungskräfte. Wandel ohne Routine ist kaum denkbar. Dazu kommen individuelle Einflüsse wie Bildung, Alter, Einkommen oder Geschlechterrollen. Und ganz wichtig: biografische Einschnitte wie Krankheit oder die Geburt von Kindern – sie öffnen sogenannte „Gelegenheitsfenster“ für Veränderung. Auf gesellschaftlicher Ebene spielen Ernährungsumgebungen – etwa Kantinen oder Kitas – eine Schlüsselrolle, weil sie neue Praktiken erlebbar machen.

Und was passiert, wenn externe Faktoren wie Klimawandel oder Kriege unseren Zugang zu Lebensmitteln einschränken?

Dann beobachten wir nicht nur Knappheiten, sondern auch Preissteigerungen. Das kann auf der einen Seite zu neuer Wertschätzung führen – auf der anderen aber soziale Ungleichheiten verschärfen. Ernährungsarmut ist in Deutschland längst Realität: 2023 waren laut Statistischem Bundesamt rund 5,7 Millionen Menschen davon betroffen. Der Zugang zu gesunder Ernährung ist also stark sozial geprägt.

In der Theorie sollen wir regional, saisonal und pflanzenbasiert essen – ist das für alle überhaupt realistisch?

Das ist genau der Punkt. Solche Empfehlungen gehen oft am Alltag vieler Menschen vorbei. Regionale oder pflanzliche Produkte sind mitunter teurer, vor allem Ersatzprodukte. Deshalb braucht es weniger pauschale Appelle und mehr zielgruppenspezifische Strategien – angepasst an Ressourcen, Bildung und finanzielle Spielräume. Pauschale Appelle im „Müssen und Sollen“-Ton erzeugen oft nur Schuldgefühle.

Welche Rolle spielen dabei neue Technologien – In-vitro-Fleisch, 3D-gedruckte Lebensmittel, Algen?

Die entscheidende Frage lautet: Welches Problem lösen diese Produkte? Viele Menschen empfinden sie als künstlich. Es gibt kulturelle Vorstellungen von Natürlichkeit, gerade beim Essen. Solche Technologien werden oft als Ersatz präsentiert – aber solange das Original noch vorhanden ist, fehlt die Akzeptanz. Es braucht Zeit, um Tabus und Vorbehalte zu überwinden.

Was können wir denn alle selbst tun, um zum Beispiel auch offener für den Wandel zu werden?

Veränderungspotenzial gibt es – das sehe ich optimistisch. Wichtig ist auch, wie wir über Ernährung sprechen. Momentan dominiert oft eine problemzentrierte, moralische Kommunikation – Stichwort Verzicht. Dabei hat Essen enormes positives Potenzial: Genuss, Vielfalt, Neugier. Wir sollten Ernährung kommunikativ entdramatisieren und auch mehr Gelassenheit zulassen. Essen ist nicht nur gut oder böse.

Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang soziale Medien und Influencerinnen und Influencer?

Sie können viel bewirken – im Positiven wie im Negativen. Ihr Einfluss auf junge Zielgruppen ist groß. Problematisch wird es, wenn Empfehlungen wissenschaftlich nicht fundiert sind oder Ernährung zu einer Art Ersatzreligion mit starren Regeln wird. Trotzdem sehe ich das Potenzial, über diese Kanäle auch nachhaltige Botschaften gut zu vermitteln.

Und wer entscheidet künftig, was auf den Teller kommt – Kinder, Politik, Kantinen?

Ein Mix aus allem. Kinder etwa bringen viel Neues aus Kitas mit – da beginnt oft Wandel. Gleichzeitig bleibt Ernährung stark individuell. Am Ende isst jeder für sich. Deshalb ist es so wichtig, dass Strukturen Veränderungen ermöglichen – unabhängig vom Geldbeutel.

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft: Wie könnte Ihr persönliches Wunschgericht von morgen aussehen?

Vielleicht ein Menü – mit etwas Neuem, etwa Insekten, aber auch einem Gericht, das an Kindheit erinnert. Denn Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern auch Identität und Erinnerung. Diese Verbindung brauchen wir auch in der Ernährung der Zukunft.

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