Essen mit allen Sinnen (3): „Mehr mit offener Nase durch die Welt gehen“

Ohne Geruchssinn könnten wir unser Essen nicht genießen. Denn vieles, was wir als „Schmecken“ bezeichnen, hat eigentlich mit der Wahrnehmung von Düften zu tun. Wir haben mit Geruchsforscher Professor Hanns Hatt über Riechrezeptoren, Duftmuster von Vanille und Kaffee und Riechstunden gesprochen.

ALIMENTATION FEMME REPAS

Femme sentant son repas.

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Herr Professor Hatt, Sie haben mal gesagt, „alles was duftet, gibt Moleküle in die Luft ab“. Wie funktioniert dann das Riechen?

HH: Wir können nur die Duftstoffe wahrnehmen, also riechen, die in der Luft herumschwirren. Durch die Atemluft nehmen wir diese Duftmoleküle mit unserer Nase auf. In der obersten Etage unserer Nase gibt es dann 20 bis 30 Millionen Riechzellen. Diese Riechzellen tragen an ihrer Oberfläche Sensoren, sogenannte Rezeptoren, die durch die Duftmoleküle aktiviert werden. Das ist das klassische Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die Rezeptoren sind die Schlösser und die Duftmoleküle der Schlüssel. Das heißt, die Duftmoleküle, die wir aufnehmen, die müssen den passenden Rezeptor finden, beispielsweise für Vanille, Moschus oder Buttersäure.

Der Mensch hat insgesamt 350 verschiedene Rezeptortypen zur Verfügung und deckt damit die gesamte Duftwelt ab. Jede unserer Riechzellen ist dabei ein Spezialist, stellt nur einen Typ von Rezeptoren her. Wenn der Kontakt zwischen dem Duftmolekül und der Riechzelle zu Stande gekommen ist, dann löst das Duftmolekül in den Riechzellen einen elektrischen Stromimpuls aus, der zum Gehirn geleitet wird und das Gehirn des Menschen informiert, dass die Vanillezelle gerade von einem Duftmolekül getroffen wurde. Auf diese Weise können wir dann durch Lernprozesse diese Düfte identifizieren.

Aus wie vielen Duftmolekülen besteht denn ein spezifischer Duft?

HH: Die meisten Naturdüfte bestehen nicht aus einer Duftmolekülsorte wie Vanillin, sondern sind Mischungen aus verschiedensten Duftstoffen. Kaffeeduft besteht zum Beispiel aus 100 bis 150 Duftstoffen, das heißt Kaffee aktiviert 100 und mehr der Rezeptoren. Solche komplexen Aromenmuster muss unser Gehirn erst einmal auswendig lernen. Und wenn eine andere Kombination von Rezeptoren aktiviert wird, dann ist es vielleicht eher Rotwein als Kaffee. Das sind komplizierte Prozesse, deshalb ist es nicht einfach, Düfte zu erlernen und immer gleich wieder zu erkennen. Das „Duftalphabet“ hat immerhin 350 „Buchstaben“ zur Verfügung und „Duftwörter“ sind oft 100 Buchstaben und länger.

Kaffeeduft aktiviert mehr als 100 Geruchsezeptoren.

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Riechen wir denn alle dasselbe oder nehmen wir mit jeder Riechzelle auch etwas Unterschiedliches wahr?

HH: Jeder hat zwar die gleichen 350 Rezeptortypen, aber trotzdem riecht jeder ein bisschen etwas unterschiedliches. Jedes Mal, wenn wir Luft einatmen, werden wir mit der Luft Duftmoleküle einatmen. Und jedes Mal bekommt unser Gehirn eine Duft-Information. Schätzungsweise alle zwei Sekunden. Diese Duftinformation wird sofort ins Gedächtniszentrum geleitet und dort abgespeichert, gleichzeitig aber auch im Emotionszentrum. Das heißt, dass diese Duftkombination, die wir gerochen haben, mit der Emotion, die wir in diesem Moment hatten, und den Bildern, die wir in diesem Moment gesehen haben, zusammen abgespeichert wird. Wenn ich dann wieder die gleiche Kombination an Duftstoffen wahrnehme, kann ich dann die zusammen abgespeicherten Erinnerungen und Emotionen wieder auslösen. Deswegen haben Düfte bei jedem Menschen auch andere Bewertungen und Bedeutungen.

Hinzu kommt, dass die einzelnen Rezeptoren durch Vererbung unterschiedlich stark empfindlich sein können. Das heißt die einen haben einen ganz empfindlichen Vanille-Rezeptor, die anderen eher einen unempfindlichen. Dies gilt auch für unsere Geschmacksrezeptoren – süß, sauer, salzig, bitter – so kommen auch Geschmacksvorlieben zu Stande. Wenn ich einen unempfindlichen Rezeptor für Bitterstoffe, zum Beispiel aus Rosenkohl habe, esse ich den Kohl eher, als wenn ich die Bitterstoffe besonders intensiv wahrnehme.

Rosenkohl

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HH: Das hat zwei Gründe. Vorab die Bemerkung – Schmecken ist im psychologischen Sinne nur das, was auf der Zunge passiert. Das ist ein einfaches Sinnesorgan, was wirklich nur unterscheiden kann zwischen süß, salzig, sauer und bitter. Wenn der Mensch sagt, der Vanillepudding hat mir geschmeckt, dann meint er alle Sinneseindrücke, die zusammengewirkt haben – Aromen, Geschmacksstoffe, Haptik wie Cremigkeit beispielsweise.

Von der Vanilleschote selbst gehen wahrscheinlich so 100 verschiedene Duftstoffe aus. ABER: Darunter ist ein Stoff, nämlich das Vanillin, das in sehr hoher Konzentration vorliegt und das auch fast ausschließlich in der Vanilleschote zu finden ist. Das bedeutet, dass man „Vanille“ mit einem einzigen chemischen Molekül, dem Vanillin, imitieren kann. Das ist aber tatsächlich fast die Ausnahme.

Vanilleschoten

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Ein anderes Beispiel wäre Veilchenduft, der auch durch einen Inhaltsstoff – das charakteristische Beta-Ionon – erkannt werden kann. Die Identifikation der Düfte hängt also zum einen von der Komplexität des Aromas ab und ob es sozusagen einen charakteristischen „Leitduft“ gibt. Und zum anderen muss ich die Duftmuster auswendig lernen, um sie wiedererkennen zu können, also die Duftkombination im Zusammenhang mit dem Wort „Kaffee“, „Erdbeere“, „Banane“.

Kann man die Bewertung eines Duftes vererben?

HH: Nein, es ist alles ein Lern- und Erziehungsprozess. Es ist nichts genetisch oder vererbt, alle Duftbewertungen werden durch eigene Erfahrungen, Erziehung und so weiter geprägt. Die Fähigkeit des Riechens ist aber bereits in der 26. Schwangerschaftswoche relativ gut ausgebildet. Dann kann der Embryo riechen und lernt und bewertet im Prinzip auch schon Düfte durch das, was die Mutter isst.

Wenn man erkältet ist, schmeckt alles gleich – woran liegt das?

HH: Wenn jemand erkältet ist, dann ist der eigentliche Geschmackssinn weiterhin intakt und er schmeckt den Zucker, das Salz, die Säure oder das Bittere des Lebensmittels, ebenso scharf und heiß bei Peperoni oder stechend und kalt bei Menthol. Aber die Aromen des Essens erkennt man dann nicht, weil man den Geruch nicht wahrnehmen kann.

Warum werden Lebensmittel aromatisiert?

HH: Wir Menschen beschäftigen uns zunehmend weniger mit der Duftwelt, riechen nicht mehr bewusst und trainieren das Riechen nicht mehr. Die Leute müssten mehr mit offener Nase durch die Welt gehen. Warum gibt es „Riechstunden“ nur im Mutterleib und nicht in der Schule? Wir müssen von Anfang an mehr trainieren. Ein Parfümeur hat auch nur die 350 Rezeptoren, die Natur hat jeden gleich ausgestattet. Und je besser man im Riechen trainiert ist, desto weniger Duftstoffe benötigt man.

Wenn ich mich gar nicht damit befasse, brauche ich relativ hohe Konzentrationen, damit ich die Düfte überhaupt mal lerne und mir merke. Das ist aber auch ein Teufelskreis. Durch die teilweise intensive Aromatisierung werden wir allerdings daran gewöhnt, dass wir uns nicht mehr anstrengen müssen, nicht mehr intensiv lernen müssen. Das gibt es auch bei Farben. Farbabbildungen in Lehrbüchern müssen heute richtig plakativ sein, weil wir die Intensität des Farbfernsehers oder des Computers gewöhnt sind. Da kommt man mit den blassen Farben von früher nicht mehr weit.

Brokkoli

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Allerdings muss man auch sagen, dass ja ab dem 65. Lebensjahr das Riechen drastisch abnimmt. Statistisch gesehen riechen 30 Prozent der 75-jährige nur noch sehr wenig. Die Betroffenen denken dann, die Lebensmittel schmecken nicht mehr so wie früher, oder die Ehefrau kann nicht mehr so gut kochen. Dabei ist das alles gleich geblieben, nur das Riechen funktioniert nicht mehr so gut. Wenn man dann im Pflegeheim hingeht und die Lebensmittel nacharomatisiert, dann tut man den Menschen einen großen Gefallen. Eigentlich bräuchte man eine Spezial-Lebensmittelabteilung für ältere Menschen. Beim Sehen hilft die Brille, beim Hören das Hörgerät, aber fürs Riechen gibt es nichts außer der Verstärkung des Reizes. Individuelle Anpassungen der Lebensmittel wären tatsächlich hilfreich.

Woran forschen Sie zur Zeit?

HH: Wir konnten vor einigen Jahren das erste Mal zeigen, dass die 350 Riechrezeptoren eben nicht nur in der Nase zu finden sind, sondern dass sie sich über den ganzen Körper ausgebreitet haben. Sie kommen in der Haut, im Darm oder im Herzen vor. Das Essen wird also noch eine ganz andere Wertigkeit bekommen. Duftstoffe gelangen in das innere unseres Körpers, in das Blut, werden dort weiter transportiert.

Die Düfte der Lebensmittel, die wir essen, beeinflussen deshalb zum Beispiel unsere Darmzellen oder die Blutdruck-Zellen der Niere. Und damit kann ich über das Essen meine Verdauung oder den Blutdruck beeinflussen. Wie heißt es so schön: Was man isst, das ist man. Aromastoffe zum Beispiel in Gewürzen über die Nahrung aufgenommen, können über die in Darmzellen vorkommenden „Riechrezeptoren“ die Peristaltik verbessern. Über die Ernährung, das wissen wir, kann man seine Gesamtgesundheit beeinflussen. Und die Düfte gehören dazu. Wie genau – daran forschen wir gerade intensiv.

Vielen Dank für die spannenden Einblicke!

Professor Dr. Hanns Hatt

Professor Dr. Hanns Hatt promovierte in Zoologie, Humanphysiologie und Medizin. Er hat sich durch viele Beiträge auf dem Gebiet der Chemosensorik ausgezeichnet, von denen der Großteil am Lehrstuhl für Zellphysiologie der Ruhr‐Universität Bochum gemacht wurde, den er über 20 Jahre leitet und zu einem der führenden Forschungslabors weltweit auf diesem Gebiet gemacht hat. Er leistete wissenschaftliche Beiträge auf dem Gebiet der Duftwahrnehmung bei Wirbeltieren, vor allem dem Menschen, aber auch bei Wirbellosen und ist durch seine zukunftsweisenden Arbeiten über die Struktur und Funktion von Riechrezeptorproteinen bekannt geworden.

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Der Artikel ist der dritte Teil der Reihe „Essen mit allen Sinnen“ über den Einfluss der verschiedenen Sinneswahrnehmungen auf das Esserlebnis.