Essen mit allen Sinnen (1): Der Einfluss des Geschmacks
Von allen Sinnen, die am Esserlebnis beteiligt sind, fällt den meisten als erstes der Geschmackssinn ein. Einen bestimmten Geschmack mögen wir, einen anderen eher nicht – und das ändert sich mit dem Alter. Aber warum ist das so? Dazu haben wir mit Biochemiker Professor Wolfgang Meyerhof gesprochen.
Herr Professor Meyerhof, wie entwickeln sich eigentlich die Geschmackssinne?
WM: Wenn wir von Geschmack sprechen, dann reden wir in erster Linie von der Wahrnehmung der fünf Grundgeschmacksarten süß, salzig, sauer, bitter und umami. Es geht bei dieser Wahrnehmung erst einmal nicht um eine persönliche Bewertung, sondern ausschließlich darum, dass wir in der Lage sind, bestimmte Konzentrationen von Stoffen, die in diese fünf Kategorien fallen, zu ermitteln.
Der bittere und der süße Geschmack entwickeln sich bereits vor der Geburt. Babys sind ab dem letzten Trimester der Schwangerschaft in der Lage Geschmacksstoffe der Kategorie süß und bitter wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Das weiß man aus sogenannten gustofaszialen Reflexen. Also salopp gesprochen aus dem ‚Grimasse-Schneiden‘, wenn man Babys zum Beispiel saure Geschmackslösung auf die Lippen träufelt. Die Wahrnehmung von sauer, salzig und umami entwickelt sich dann mit der Zeit. Die Empfindlichkeit für die fünf Grundgeschmacksarten ist übrigens im jungen Erwachsenenalter am größten und nimmt mit fortschreitendem Alter ab.
Wie uns etwas schmeckt, ist dann untrennbar mit dem Schmecken selbst verbunden. All das, was wir schmecken, bewerten wir auch. Und da sind Menschen natürlich sehr unterschiedlich in ihrer Bewertung bei ein und derselben Geschmackskombination.
Wie kommen diese Unterschiede bei der Geschmackswahrnehmung zu Stande?
WM: Es ist definitiv so, dass wir unterscheiden müssen zwischen angeborenen und erlernten Verhaltensweisen. Die angeborenen Verhaltensweisen kommen natürlich insbesondere bei Kindern zu tragen. Je jünger die Kinder sind, desto größer ist der angeborene Faktor. Die Kinder reagieren positiv auf Süßes und negativ auf Bitteres. Beides kann man an den eben schon erwähnten gustofaszialen Reflexen ablesen, in Form von Hinwendung bei Süßem beziehungsweise Ablehnung bei Bitterem. Diese angeborenen Verhaltensweisen zeigen Kinder, bis sie anfangen entwöhnt zu werden.
In dem Moment, wo sie anfangen, feste Nahrung zu sich zu nehmen, müssen sie lernen, was bekömmlich beziehungsweise unbekömmlich für sie ist. Von diesem Zeitpunkt an beginnen die angeborenen Verhaltensweisen überlagert zu werden mit erlernten Verhaltensweisen. Mit anderen Worten: Wir erlernen unsere Vorlieben und unsere Abneigungen.
Wie geht das vonstatten?
WM: Dazu genügt eine Reihe von relativ einfachen Mechanismen. Der erste Effekt, der einsetzt, ist die Überwindung sogenannter Neophobien. Kinder, die das erste Mal feste Nahrung zu sich nehmen, kennen diese nicht und reagieren erst einmal mit Ablehnung. Dann lernen sie die Konsequenzen der aufgenommenen Nahrung zu assoziieren mit dem Geschmack dieser Nahrung. Was heißt das? Der Organismus wartet ab, ob es zu Beschwerden kommt. Sollte die verzehrte Nahrung beispielsweise gefährliche Stoffe enthalten, unbekömmlich sein, bakteriell verdorben und der Magen reagiert mit Malaise, dann wird diese Malaise mit dem Geschmack des Lebensmittels assoziiert. Die Konsequenz ist natürlich, dass bei erneutem Kontakt mit dem Lebensmittel die Nahrungsaufnahme vermieden oder reduziert wird. Gibt es keinerlei Beschwerden und das Kind wird satt, dann wird das angenehme Gefühl der Sättigung mit diesem Geschmack assoziiert. Und das führt dazu, dass das Kind bereit ist, dieses Nahrungsmittel auch erneut zu verzehren.
Nach diesem Prinzip werden unsere Nahrungsvorlieben und -abneigungen über einen längeren Zeitraum geformt. Der ‚Geschmack‘ der Lebensmittel wird dabei abgespeichert in etwas, das als Geschmackserkennungsgedächtnis bezeichnet wird. Das ist ein Teil unseres Gedächtnisses, das nicht bewusst zugänglich ist. Die Erinnerung an den Geschmack einer Speise wird assoziiert mit der abgespeicherten Erfahrung, die im Zusammenhang mit dem Verzehr gemacht wurden. Und da gibt es Regeln, was Vorlieben und was Abneigungen ausbildet. Im Prinzip ist es so, dass alle Sorten von Belohnung als positive Verstärker funktionieren und alle Bestrafungen als negative Verstärker. Beispiel: Wenn Papa sagt, wenn du das Gemüse isst, dann darfst du eine Stunde heute Abend fernsehen, ist das ein positiver Verstärker. Wenn er aber sagt, wenn du deine Suppe nicht isst, dann gehst du heute um 16 Uhr ins Bett, dann wäre es ein negativer Verstärker. Negative Verstärker sind in der Regel sehr wirkungsvoll. Anderes Beispiel: Wem einmal richtig schlecht geworden ist, der wird dieses Lebensmittel lange nicht mehr essen.
Gibt es weitere Einflussfaktoren auf die Geschmackswahrnehmung?
WM: Das, was wir an Wahrnehmungen haben, wenn wir essen oder trinken, sind nicht nur die fünf Grundgeschmacksrichtungen. Wir riechen unser Essen zum Beispiel auch. In einem bestimmten Prozess macht unser Gehirn uns etwas vor: es macht uns glauben, wir schmecken etwas, obwohl wir es riechen. Dieses retronasale Riechen ist für die Empfindung des Essens im Mund ziemlich entscheidend. Dann kommt natürlich auch der Eindruck der Beschaffenheit und Temperatur hinzu. All diese Sachen werden zusammen ausgebildet und formen dann das, was wir als Geschmack bezeichnen.
Nochmal zurück zu den Säuglingen. Diese essen in der Regel Rosenkohl – aufgrund des bitteren Geschmacks – ja nicht ganz so gerne. Nun heißt es, dass man dennoch den Rosenkohl immer wieder anbieten soll. Kann man Geschmack also erlernen?
WM: Ja, das ist richtig. Das erneute Anbieten hilft. Eine Arbeitsgruppe in Dijon hat ein Experiment mit Spinat und Möhren dazu gemacht. Möhren haben eine intrinsische Süße, Spinat eine intrinsische Bitterkeit. Die Möhren waren von Beginn an unproblematisch und dann zeigte sich, dass nach dem elften Anbieten auch der Spinat von den Kindern gemocht wurde.
Dass wir mit bitter eher negative Eigenschaften verbinden, hängt damit zusammen, dass es uns vor giftigen Lebensmitteln schützen soll, heißt es. Gibt es solche Erkenntnisse auch zu Saurem oder Salzigen?
WM: Man geht davon aus, dass jede Grundgeschmacksart ihre eigene Funktion hat. Süß und umami gelten als Anzeiger von Kalorien in Form von Kohlenhydraten oder Proteinen. Sauer und salzig sind etwas komplexer. In der Regel werden milde Säure und ein geringer Salzgehalt als attraktiv empfunden. Man begründet es damit, dass wir uns damit Elektrolyte erschließen. Salz ist lebensnotwendig, denn mit jeder Ausscheidung verlieren wir Elektrolyte, die wir unserem Körper für einen ausgeglichenen Elektrolythaushalt wieder zu führen müssen. Deshalb ist in geringen Konzentrationen Salzgeschmack attraktiv.
Genauso ist es mit Säure. Im Prinzip sind all unsere Getränke sauer. Egal, was wir trinken, ob Kaffee, Wein, Bier – sie haben ähnliche saure pH-Werte und insofern gilt milde Säure als interessant und förderlich. Für beides gilt: in hohen Konzentrationen mögen wir es nicht mehr und lehnen es ab. Säure zeigt zum Beispiel in höheren Konzentrationen bakteriell verdorbene Lebensmittel an. Wenn der Salzgeschmack zu intensiv ist, nehmen wir es als Versalzen war und lehnen es ab.
Haben wir ein Körperempfinden, das uns davor bewahrt, Dinge zu essen, die uns nicht guttun, weil mit diesem oder jenem Lebensmittel die Grenze des „Zuviel“ erreicht ist?
WM: Für Salz gibt es hier wissenschaftliche Erkenntnisse. Klar ist es so, dass wir eine stark versalzene Suppe nicht essen, weil wir sofort merken, dass es unserem Körper nicht guttut. Aber wenn man kontinuierlich eine höhere Salzdosis zu sich nimmt, gewöhnt man sich genauso daran, als wenn man kontinuierlich eine geringe Salzdosis aufnimmt. Wenn man über einen längeren Zeitraum sparsam mit dem Salzstreuer umgeht, dann kann es dazu führen, dass wir die gering gesalzenen Lebensmittel genauso gerne mögen wie vorher die normal gesalzenen. Das ist ein sukzessives Vorgehen zur gesundheitlich erwünschten Reduktion der Kochsalzaufnahme.
Es gibt auch andere Möglichkeiten die Salzaufnahme zu verringern, wie zum Beispiel physikalische Techniken. Beispielsweise eine feinere Vermahlung der Salzkristalle, die mehr Salz verfügbar machen fürs Schmecken. Wenn man ein grobes Salzkorn herunterschluckt schmeckt man weniger, als wenn es feiner vermahlen ist und damit besser verfügbar für die sensorischen Organe.
Aber wir müssen uns auch nichts vormachen. Menschen, die Erfahrungen mit dem Kochen haben, sagen, wenn es nicht schmeckt, dann mach Zucker oder Salz dran. Ich kenne niemanden, der ohne Salz kocht und der keinen Zucker in irgendeiner Form zu sich nimmt. Es sind Geschmacksträger.
Was schmeckt Ihnen persönlich am besten?
WM: Das weiß nur meine Frau! Was ich selber koche, das esse ich auch gerne.
Professor Dr. Wolfgang Meyerhof Wolfgang Meyerhof ist ein deutscher Biochemiker. Er war seit 1994 Leiter der Abteilung Molekulare Genetik des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam‐Rehbrücke, wo er den Einfluss der Geschmackswahrnehmung auf das Ernährungsverhalten und die Gesundheit sowie ihre genetischen Grundlagen erforschte. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe gelang es Meyerhof, Gene für die menschlichen Bittergeschmacks‐ und Süßgeschmacks‐Rezeptoren zu identifizieren und zu charakterisieren. Als wegweisend gilt sein Nachweis, dass die unterschiedlichen Geschmacksvorlieben in der Bevölkerung genetische Ursachen haben. |
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Der Artikel ist der erste Teil der Reihe „Essen mit allen Sinnen“ über den Einfluss der verschiedenen Sinneswahrnehmungen auf das Esserlebnis.