Hochverarbeitete Lebensmittel: Probleme, Kritiken, Chancen
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder zeigt auf, warum hochverarbeitete Lebensmittel in modernen Gesellschaften nicht nur akzeptiert, sondern auch notwendig sind.

Hochverarbeitete Lebensmittel sind total out, ein Skandal, gesundheitsschädlich, gefährlich, minderwertig. Diesen Eindruck gewinnt, wer durch die Leitmedien blättert, im Internet surft oder den Fernseher anschaltet. Dabei sind sie kein Randphänomen, sondern mehrheitsfähig. Etwa 50 Prozent der Energieaufnahme nehmen die Erwachsenen in Deutschland in Form von Ultra-Processed Food (UPF) zu sich – und zwar freiwillig. Warum ist das so? Und warum schreitet der Gesetzgeber nicht ein?
Hochverarbeitete Lebensmittel stehen am Ende einer langen Erfolgsserie. Zuerst die Entdeckung des Feuers, dann kamen Räuchern, Fermentation, Pökeln. Konservierung von Lebensmitteln bedeutet eben bessere Überlebenschancen. Als sich Deutschland im 19. Jahrhundert industrialisierte, nahm die Lebensmittelverarbeitung Fahrt auf. Fleischextrakt, Konservenherstellung, Pasteurisierung oder Puddingpulver galten als Symbole von Fortschritt und gutem Leben. Schnelles Kochen und Essen war Voraussetzung für den wachsenden Wohlstand der Freizeitgesellschaft. Kritik: Fehlanzeige.
Nach den beiden Weltkriegen nahm die Konsumgesellschaft diesen Faden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auf: Massenmotorisierung und Reiselust, Fernsehabende und Partyspaß, all das ließ weniger Zeit für traditionelle Zubereitung – die galt ohnehin als altbacken und überkommen. Zukunft schmeckte nach Tiefkühl- und Fertiggerichten. Ein wichtiges Argument lautete: Schnelles Kochen entlastet die Frauen, denn die trugen die Hauptlast der Hausarbeit.
Das änderte sich erst um die Jahrtausendwende: Die Angst vor einer untergehenden Welt, die Erkenntnis, dass Ressourcen endlich sind sowie ein neuer und sensiblerer Umgang mit Körper und Gesundheut brachten eine Neubewertung der Ernährung. Drei Sündenböcke waren schnell gefunden: Verarbeitete Lebensmittel, Fleisch und Zigaretten. Aber während das Rauchen strategisch zurückgedrängt wurde, hielten die Deutschen dem Fleisch und den Fertiggerichten die Treue. Kritik daran wurde immer lauter, aber die Praxis änderte sich kaum. Denn zum einen erfordert eine mobile dynamische Lebensstilgesellschaft Prioritäten, und die liegen für die meisten eben eher auf Freizeit und Medienkonsum als auf Garten und Kochen und zum anderen sind die Zubereitungskompetenzen erodiert. Für den Pullover brauche ich kein eigenes Schaf, und für die Suppe keinen eigenen Acker – das ist die praktische Verbraucherlogik. Hinzu kommt: Die ökonomisch-soziale Schere führt zu Zeitknappheit und Preissensibilität, da braucht es eine preiswerte zeitflexible Küche. Außerdem ist das, was in den Regalen liegt, nicht illegal. Im Gegenteil, viele Produkte sind ständig besser geworden.
Was bleibt als Fazit? Gesunde Ernährung bleibt in Zukunft ein großes Thema. Aber hochverarbeitete Lebensmittel sind Teil der Alltagsernährung. Sie bedeuten Kosteneffizienz, Zeitersparnis, Freiheit.
Ungesunde Ernährung ist weit verbreitet. Aber dafür gibt es strukturelle Gründe: sie ist meist Resultat von prekären Lebensumständen, Stress oder Bildungsdefiziten. Es sind die gesellschaftlichen Realitäten, die zur Fehlernährung führen, weniger die Angebote der Industrie. Die sollte den Weg der Produktoptimierung weiterverfolgen, und das wird sie auch, aber vor allem muss die Politik ihre Hausaufgaben machen und die Ernährungsbildung auf eine breitere zukunftsgewandte Basis stellen. Dann fragen mündige Bürgerinnen und Bürger noch bessere Produkte nach, die mehr Gesundheit bringen, aber auch mehr Wertschöpfung.